Der Zweite Bildungsweg in Diskussion

Wolfgang Brückner, John Evers, Christian Nowak, Peter Schlögl, Judith Veichtlbauer (2017)
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Der „Zweite Bildungsweg" ist als Begriff zwar breit im Alltagsverständnis verankert und gilt als Kernelement von LLL-Strategien, dennoch sind die bereits historisch vagen Konturen eines Zweiten Bildungswegs aktuell unschärfer denn je. Während auf der einen Seite von Entgrenzung und Funktionswandel die Rede ist, wird auf der anderen Seite versucht, der zunehmenden Unübersichtlichkeit mit begrifflicher Verengung auf das Nachholen der Reifeprüfung oder – leicht erweitert – von Schulabschlüssen zu begegnen, was eher an die Traditionen der Zwischenkriegszeit und der 50er Jahre rückbindet und immer mit dem Makel der nur 2. Wahl behaftet sein wird.


Wenn Durchlässigkeit ein wesentliches Anliegen unseres Bildungssystems ist und zugleich tiefgreifender Strukturwandel Adaptionsdruck auf Individuen und auch Bildungssysteme als Ganzes ausübt, ist eine neue Standortbestimmung für den 2. Bildungsweg notwendig. Dies gilt umso mehr, da dieser trotz de facto wachsender Bedeutung „ein Randthema sowohl der Bildungsforschung wie auch der bildungspolitischen Öffentlichkeit" (Harney/Koch/Hochstätter 2007, S.34) darstellt.


Das Themendossier richtet sich an die bildungspolitisch interessierte Praxis im weitesten Sinn (Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Verwaltung) und möchte dazu beitragen, den Zweiten Bildungsweg wieder in Diskussion zu bringen und aus der Unschärfe des Begriffs heraus wieder intensivere Auseinandersetzung mit diesem Konzept anregen.


Das Dossier umfasst Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit im historischen Rückblick und aktuelleren Perspektiven (Abschnitt „Definitionen - Diskurse"), eine Darstellung und Diskussion exemplarischer Angebote, die am konkreten Beispiel darüber hinausweisende Fragen aufwerfen soll, sowie den Versuch, auf qualitativer Ebene ein verbindendes didaktisches Selbstverständnis in der Praxis des Zweiten Bildungswegs zu erörtern.

 

 

Definitionen – Diskurse

Dieser grundlegende Abschnitt zeichnet den Forschungsstand mit Blick auf historische Diskursverschiebungen und aktuelle Bestimmungen des Zweiten Bildungswegs nach.


Es geht dabei weniger darum, einen traditionsreichen Begriff aus Prinzip im Spiel zu halten. In einer globalisierten Wissensgesellschaft (nicht zuletzt angesichts wachsender Migrationsströme) wird die Erstausbildung in Kindheit und Jugend an Bedeutung für Bildungsbiografien verlieren, damit muss mittelfristig mit Blick auf das gesamte Bildungssystem überlegt werden, wie Strukturen und Übergänge sinnvoll angelegt, Rahmenbedingungen für „lebensphasenorientiertes Lernen" verbessert und die Verteilung von begrenzten Finanzmitteln gewichtet werden soll. Dass sich die Universitäten verstärkt mit „nicht-traditionellen" Studierenden befassen und Fachhochschulen in breitem Ausbau Angebote für berufsbegleitendes Studium bieten sind deutliche Indizien für derartige Entwicklungen.


Mit einem defizitorientierten Zugang, der den 2. Bildungsweg auf das Nachholen von schulischen Abschlüssen einschränkt, wird man dem wachsenden Segment abschlussorientierter Erwachsenenbildung also längst nicht mehr gerecht.


In manchem schließt das Dossier damit an Diskussionsfelder an, die bereits im Magazin für Erwachsenenbildung zum Zweiten Bildungsweg 2014 thematisiert wurden – so etwa die Gleichzeitigkeit von systemischer Randständigkeit und Unterschätzung der quantitativen Bedeutung der formalen Erwachsenenbildung in Österreich. Grundlagen und umfangreiches Datenmaterial werden überdies in der umfassenden Studie von Mario Steiner zum Zweiten Bildungsweg präsentiert, wobei Bildungsabbruch und damit die potenziellen Zielgruppen von Second Chance-Angeboten im Zentrum stehen.

 

 

Exemplarische Angebote

Um nicht in der Fülle der zu diskutierenden Details die Basis für eine Gesamtperspektive zu verlieren, erfolgte in einem ersten Arbeitsschritt notwendige Eingrenzung von exemplarisch näher ausgeführten Angeboten des Zweiten Bildungswegs.


Das im Hintergrund liegende Verständnis des 2. Bildungswegs beinhaltet als pragmatische Arbeitsdefinition grundsätzlich sowohl allgemeinbildende wie berufsbildende Bildungsgänge auf mittlerem Level bis Sekundarstufe II, die Abschlüsse ermöglichen oder diese vorbereiten; ein entsprechendes „Vorfeld" wie die Basisbildung wird strukturell mitgedacht, aber ohnehin in einem eigenen Dossier behandelt.


Anschließende Ebenen wie berufsbegleitende FHs und Kollegs fallen in diesem Verständnis nicht in den zweiten Bildungsweg, dessen wesentliches Kriterium wir in der Eröffnung durchlässiger Pfade hin zum tertiären/postsekundären Sektor abseits schulischer Erstausbildung sehen.


Gemessen an diesen Auswahlprinzipien werden 4 Angebote/ Instrumente näher dargestellt, die im obigen Sinn keine Vollständigkeit beanspruchen, aber exemplarisch die strukturelle Vielfalt und unterschiedliche Problemfelder deutlich machen lassen und zugleich einem landläufig engeren Verständnis von 2. Bildungsweg nahekommen.


Im Einzelnen behandelt werden dabei:

 

 

Jede dieser Angebotsschienen/ Instrumente wird in übergreifender Struktur in vier Teilabschnitten behandelt:

  • Charakteristika (Ziele, Kriterien)
  • Genese
  • Aktueller Status (Daten, Klientel, Förderrichtlinien)
  • bildungspolitischer Anspruch und Perspektiven

Was macht den 2. Bildungsweg aus? Erwachsenengerechte Didaktik als verbindendes Element

Angesichts der funktionalen und systemischen Ausweitung von Instrumenten, die man unter „2.Bildungsweg" fassen kann und die letztlich in Verzahnung mit dem schulischen System agieren, kann man sich fragen, was auf lange Sicht für eine organisatorische Parallelführung von „Bildungswegen" spricht. Ein Abbrechen der schulischen Erstausbildung kann nicht nur auf individuelles Scheitern zurückgeführt werden, es stehen auch Organisationsformen und der Zugang zum Lernen und damit die Ausgestaltung des 2. Bildungswegs als Übergangs¬raum, der das „Versprechen sozialer Durchlässigkeit" in vielen Fällen in die Realität umsetzt, zur Diskussion. Das erfordert Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundsätzen und Strukturbedingungen, gerade weil eine „Verschulung", die sich in manchem – z.B. durch Finanzierungsmodelle und akribische TeilnehmerInnen-Monitorings – andeutet, nicht die adäquate Antwort sein kann.

Gesamtperspektive

Im Anschluss an die Skizze der diskursiven Konturen des 2. Bildungswegs und die Darstellung exemplarischer Angebote sollen die damit aufgeworfenen Fragen gebündelt und Schlussfolgerungen für künftige Diskussionen gezogen werden. Da die oftmals konstatierten lückenhaften Daten in manchem den Blick verstellen, die quantitative Bedeutung verschleiern und somit zur Vernachlässigung des 2. Bildungswegs in den bildungspolitischen Auseinandersetzungen beitragen, wird erstmals eine realitätskonformere Einschätzung der didaktischen und quantitativen Bedeutung des zweiten Bildungswegs versucht. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die zuvor aufgezeigten Problembereiche wird für die künftige Entwicklung dieses Bildungssegments eine stärker systemische Perspektive angemahnt – etwa in Form eines instrumenten-übergreifenden Modus von Qualitätssicherung, der die aktuell vorherrschende Rückbindung nicht-schulischer Abschlüsse an das Schulsystem ablöst, oder einer besseren wechselseitigen Anerkennung von Lernergebnissen unterschiedlicher Abschlüsse des 2. Bildungswegs.