Paradigmatische Umbrüche ab den 1970er Jahren

Beatrix Eder-Gregor, Eva-Maria Speta (2018)

Die Konzepte der Integration und Inklusion und ihre Auswirkungen auf die barrierefreie Erwachsenenbildung heute

In diesem Abschnitt sollen die verhältnismäßig jungen und neuen Entwicklungen im Umgang mit behinderten Menschen nachgezeichnet werden. Erst seit knapp 40 Jahren gibt es Bestrebungen, Menschen mit Behinderungen nicht mehr in eigenen Einrichtungen "gesondert" unterzubringen, sondern sie wie alle Menschen in den regulären (Erwachsenenen-)Bildungseinrichtungen teilhaben zu lassen. Die Tatsache, dass auch heute noch Sonderschulen existieren, verweist darauf, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist.

 

Integration als Abkehr von Sondereinrichtungen

Pädagogische Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen wurden noch in den 1970er Jahren ausgebaut, mit SpezialistInnen für verschiedene Funktionsbereiche versehen und zum Teil materiell sehr gut ausgestattet. Es wurde üblich, die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nach verschiedenen Behinderungsformen zu differenzieren: Einrichtungen für Menschen mit Lernbehinderungen, für Menschen mit Sprachbehinderungen, für Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten, für Menschen mit Körperbehinderungen und Einrichtungen für Menschen mit Sinnesbehinderungen. Diese kategoriale Einteilung betraf die Sonderschulen, aber auch die Einrichtungen der Kleinkindbetreuung und Einrichtungen für erwachsene Menschen.


Ab den 1970er/1980er Jahren, fanden im pädagogischen Bereich mehrere paradigmatische Umbrüche statt. Unter dem Schlagwort der "Normalitätsdebatte" wurden - zunächst in den skandinavischen Ländern - Stimmen laut, die ein möglichst normales Leben für behinderte Menschen und eine Hebung ihrer sozialen Rolle forderten. Daraus leitete sich in weiterer Folge die Forderung nach Integration behinderter Menschen ab. Der Begriff "Integration" leitet sich vom lateinischen Wort "integer" ab, was so viel wie "heil, vollständig, ganz" bedeutet. Integration im pädagogischen Verständnis meint im Sinne einer Einbeziehung eine gemeinsame Erziehung und Bildung von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Der Deutsche Bildungsrat verstand unter Integration den Anspruch, behinderte und nichtbehinderte Kinder so weit als möglich gemeinsam zu unterrichten. Behinderte Kinder, für die ein gemeinsamer Unterricht nicht als sinnvoll erachtet wurde, sollten dennoch soziale Kontakte mit nichtbehinderten Kindern ermöglicht werden. In Österreich wurde das Recht behinderter Kinder auf den Besuch der Regelschule erst in den 1990er Jahren durchgesetzt. Integration soll sich nicht nur auf die Bildungseinrichtung, sondern auch auf Wohnen, Freizeit und Arbeit beziehen. (Vgl. Biewer 2017)

Inklusion als Umbau der Regeleinrichtungen

In jüngeren Veröffentlichungen ist zunehmend nicht mehr von "Integration" die Rede, sondern von "Inklusion". Der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Konzepten liegt darin, dass im Integrationsansatz die Bildungseinrichtung weitgehend unverändert bleibt, im Fall einer Aufnahme eines behinderten Kindes, werden integrative Hilfsdienste eingesetzt. Im inklusiven Ansatz wird eine grundlegende Neuorganisation von Schule - und Gesellschaft - angestrebt.

Die Bedeutung der UNESCO

Das Konzept der inklusiven Bildungseinrichtung findet seinen Ausgang in US-amerikanischen Diskussionen zur Bildungspolitik, für seine weltweite Verbreitung spielten britische WissenschafterInnen und die Aktivitäten der UNESCO eine bedeutende Rolle. Wesentliches Element dabei war die Erklärung von Salamanca 1994. In dieser wird in Abschnitt 2 für Kinder mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf der Zugang zur Regelschule gefordert. Durch eine kindzentrierte Pädagogik soll diese dem speziellen Bedarf nachkommen. Regelschulen mit dieser inklusiven Ausrichtung werden als Mittel zum Kampf gegen Vorurteile und Ausgrenzung gesehen.

 

Mit dem Aktionsrahmen, der zur Erklärung gehört, wurde ein bildungspolitisches Programm mit konkreten Handlungsvorschlägen dargelegt. In diesem werden inklusive Schulen als Schulen definiert, die alle Kinder aufnehmen, unabhängig von ihren körperlichen, intellektuellen, sozialen und sprachlichen Voraussetzungen. Damit sind behinderte Kinder ebenso gemeint, wie hochbegabte Kinder. Die Aufnahme von Kindern in Sonderschulen soll eine möglichst zu vermeidende Ausnahme bleiben. Jene seltenen Fälle, die dennoch in Sonderschulen beschult werden, sollen zumindest während eines Teils der Zeit am Unterricht in der Regelschule teilnehmen. Um all dies zu ermöglichen, muss wie weiter oben schon angesprochen, Schule komplett neu gedacht werden. Es werden höhere Qualitätsstandards gefordert, ebenso wie SpeziallehrerInnen und mobile Unterstützungspersonen. Die Einbindung der Gemeinden, Teamarbeit unter den LehrerInnen und Mitarbeit der Eltern sind weitere geforderte Merkmale.

 

Die Verschiedenheit der SchülerInnen stellt somit für die inklusive Schule den Ausgangspunkt dar. Diese Verschiedenheit wird als positiver Wert und nicht als Problem gesehen. Die inklusive Schule orientiert sich darüber hinaus nicht nur an den Bedarfen behinderter Schülerinnen und Schüler, in ihr wird die gesamte Heterogenität in den Blick genommen, auch geschlechtliche, ethnische, religiöse und soziale Verschiedenheit soll berücksichtigt werden. In diesem Sinne sollen sowohl die Lehr- und Lernprozesse, aber auch die Organisationsform der Schule grundlegend verändert werden. In einer inklusiven Schule sollen alle Kinder effektiv und gut lernen können.


Die inklusive Schule wird in diesem Sinne auch als Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft gesehen. Inklusion wird als Prozess des Eingehens auf die Verschiedenheit aller Lernenden gesehen, durch den die Teilhabe an Lernprozessen, an Kultur und Gemeinschaft erhöht werden soll, und durch den Ausschlüsse aus dem Bildungswesen künftig vermieden werden sollen. Der inklusive Ansatz entstand zwar im schulischen Bereich, wurde aber inzwischen zu einem Konzept für alle Altersgruppen und viele verschiedene Lebensbereiche. (Vgl. Biewer 2017)

Barrierefreie Erwachsenenbildung heute

Wie der historische Abriss gezeigt hat, ist die Forderung behinderten Menschen den gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen, in Österreich (aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern) noch verhältnismäßig jung: noch vor 80 Jahren wurde im Dritten Reich behinderten Menschen ihr Lebensrecht zur Gänze abgesprochen, das Recht auf den Schulbesuch in Sonderschulen wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren durchgesetzt, das Recht auf den Besuch der Regelschule überhaupt erst in den 1990er Jahren.


Im Lichte dieser Entwicklungen muss auch die Situation der barrierefreien Erwachsenenbildung in Österreich verstanden werden: die Entwicklung eines differenzierten Sonderschulwesens erklärt die mangelnde Erfahrung mit inklusiven Bildungsangeboten. Das trifft, noch stärker als auf den schulischen Bereich, auch auf die Erwachsenenbildung zu. Es konnte sich in Österreich bis dato keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Hilfsmitteln und Hilfestellungen für behinderte Menschen entwickeln. Viele der Möglichkeiten, "handicaps" der behinderten Menschen auszugleichen und ihnen damit die Teilhabe an allgemeinen und öffentlichen Kursen zu ermöglichen, sind bis dato noch weitgehend unbekannt. So erklärt sich, warum die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen an Kursen der Erwachsenenbildung noch relativ wenig ausgeprägt ist.


Erst mit Beginn der Diskussion um die "inclusive education" ab den 1990er und 2000er Jahren, tritt auch Inklusion in der Erwachsenenbildung zunehmend in den Fokus. Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2008 wurde erstmals ein Dokument unterzeichnet, das ein Recht auf inklusive Bildung für erwachsenen Menschen betont. Die Ausführungen zum Bundesbehinderten-Gleichstellungsgesetz und v.a. zu den Forderungen der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen haben deutlich gemacht, dass sich Österreich erst vor etwa 10 Jahren dazu verpflichtet hat, (Erwachsenen-) Bildung in Österreich inklusiv zu gestalten und Teilnahmebarrieren für behinderte Menschen abzubauen.


Es braucht daher nach wie vor umfassende Information und Sensibilisierung zum Thema der barrierefreien Erwachsenenbildung in Österreich. Praktische Beispiele sowie Hinweise zur konkreten Umsetzung von barrierefreien Bildungsangeboten sind notwendig. Die Entstehung des vorliegenden Dossiers ist ein wichtiger Schritt im Rahmen dieser Aufgabe.