Pädagogische Konzepte für die Migrationsgesellschaft

Annette Sprung 2008, aktualisiert 2013

Eine eindeutige Differenzierung bestehender Theorien und Konzepte in der Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Herausforderungen lässt sich aufgrund der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Feldes nicht vornehmen. Ordnungen können beispielsweise anhand von Zielvorstellungen, Programmen, Perspektiven der AutorInnen auf das Thema, zugrundeliegenden Gesellschaftstheorien oder konkreten Konzeptionen getroffen werden (vgl. Krüger-Potratz 2005). Es liegen mehrere Systematisierungsvorschläge vor, von denen einige hier kurz umrissen werden. Sie sind im Wesentlichen auf die Erwachsenenbildung übertragbar, die bislang keine umfassende und systematische Theoriebildung zur Thematik hervorgebracht hat.

 

Systematisierung interkultureller Pädagogik nach Gogolin/Krüger-Potratz

Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz (2006) führen zum einen Ansätze an, die auf unterschiedlichen Kulturbegriffen aufbauen (z.B. nationalstaatliche Definitionen und daraus resultierende Begegnungskonzepte). Dem gegenüber stehen Konzepte, die sich um die Vermeidung von Kulturalisierung bemühen bzw. die in vielfältigen Ansätzen versuchen, den Kulturbegriff zu differenzieren.


Hier unterscheiden die Autorinnen zwischen kulturanthropologisch und gesellschaftheoretisch fundierten Ansätzen. Abgesehen vom theoretischen Spektrum rund um den Kulturbegriff werden Ansätze Interkultureller Pädagogik von Gogolin und Krüger-Potratz ferner in postmodern-philosophisch inspirierte Zugänge sowie soziologisch argumentierende Konzepte unterteilt (vgl. Krüger-Potratz 2005).

Konzepte nach Nohl

Arnd-Michael Nohl (2006) unterscheidet vier Konzepte: Als "Ausländerpädagogik" werden defizitorientierte Modelle bezeichnet. Die "klassische interkulturelle Pädagogik" hebt Differenzen zwischen Gesellschaftsmitgliedern hervor, postuliert ihre Gleichwertigkeit und fördert den Einbezug der Mehrheitsangehörigen in pädagogische Prozesse. Innerhalb dieser Kategorie ließen sich weitere Unterscheidungen, etwa in konflikt- und begegnungsorientierte Konzepte, oder nach dem zugrundeliegenden Gesellschaftsmodell, vornehmen. Eine "Antidiskriminierungspädagogik" warnt vor Ausgrenzungsphänomenen, die auf institutioneller Ebene verankert sind. Der Blick richtet sich auf Exklusions- und Inklusionsprozesse und in erster Linie auf die Bildungssysteme. Antidiskriminierungsansätze verweisen auf den Konstruktionscharakter von "Kultur" und "Ethnizität". Nachdem Nohl auf neuere kritische Ansätze der Interkulturellen Pädagogik Bezug nimmt, entwickelt er schließlich das Konzept einer "Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten", die mehrere Dimensionen von Zugehörigkeiten (Milieus) einbezieht.

Systematisierung nach Zielsetzungen - Auernheimer

Georg Auernheimer (2007), der bereits in den 1980er Jahren ein erstes Einführungsbuch zur interkulturellen Pädagogik (damals noch: interkulturelle Erziehung) verfasste, arbeitet unterschiedliche Zielsetzungen und Prämissen interkulturellen Lernens heraus: soziales Lernen, Umgang mit Differenzen, Befähigung zum interkulturellen Dialog, multiperspektivische Allgemeinbildung, mehrsprachige Bildung und antirassistische Erziehung. Daneben führt er weitere Unterscheidungsmöglichkeiten an, wie etwa nach einer auf individuelles Handeln ausgerichteten oder stärker die gesellschaftliche Dimension berücksichtigenden Pädagogik sowie einer kognitiven vs. ganzheitlichen Verständnisweise.

"Migrationspädagogik" als Orientierung - Mecheril

Paul Mecheril entwickelte in den vergangenen 10 Jahren einen eigenständigen Ansatz der Beschäftigung mit Bildung in der Migrationsgesellschaft. Migrationspädagogik bezeichnet kein pädagogisches Konzept, sondern vielmehr eine Orientierung, welche durch die konsequente Anwendung einer spezifischen Perspektive charakterisiert ist. Mecheril plädiert für eine kritisch-reflexive Sicht auf Differenzierungspraxen, die (unter anderem auch im Bildungswesen) die "Anderen" und "Nicht-Anderen" konstruieren. "Gegenstand der Migrationspädagogik sind die durch Migrationsphänomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und ist insbesondere die Frage, wie diese Ordnungen in Bildungskontexten wiederholt und produziert, aber auch problematisiert und verschoben werden", so Mecheril (2010).

Systematisierung interkultureller Erwachsenenbildung nach Heinemann/Robak

Alisha Heinemann und Steffi Robak schlagen im Anschluss an Sprung (2002) folgende Systematisierung für die interkulturelle Erwachsenenbildung vor. Diese orientiert sich allerdings weniger an theoretischen Konzeptionen, sondern in erster Linie an einer Ordnung des Praxisfeldes.

 

  • Grundbildung und kompensatorische Angebote (etwa Alphabetisierungs- und Deutschkurse)
  • Berufliche Weiterbildung (unter besonderer Berücksichtigung des Anschlusses an vorhandene Qualifikationen von MigrantInnen, der Anerkennung im Ausland erworbener Bildungsabschlüsse oder der Einübung von in den Professionsfeldern üblichen Praktiken). Kompetenzentwicklung soll dabei als kulturübergreifende lebensbegleitende Bildung konzipiert werden. Die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen wäre in gesellschaftliche Entwicklungen einzubetten, ein Schwerpunkt liegt auf kommunikativen Fähigkeiten in multikulturellen Zusammenhängen.
  • Allgemeine Weiterbildung umfasst historisches Wissen und Kooperationsbeziehungen unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede, sozialer Praktiken zur gesellschaftlichen Teilhabe u.a.
  • Politische Bildung nimmt unter anderem auf Themen wie Globalisierung, Rassismus und Diskriminierung Bezug.
  • Interkulturelle Bildung als Teilbereich kultureller Bildung (Identitätsentwicklung, Dekonstruktion von Kulturalisierung, Erlernen von Ambiguitätstoleranz etc.)

 

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Literatur

 

  • Auernheimer, Georg (2007): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
  • Behrens, Heidi/Motte, Jan (Hg.) (2006): Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Zugänge, Konzepte, Erfahrungen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.
  • Gogolin, Ingrid/Krüger-Potratz, Marianne (2006): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Opladen: Budrich.
  • Göhlich, Michael et al. (Hg.) (2006): Transkulturalität und Pädagogik. Weinheim, München: Juventa.
  • Gürses, Hakan (2008): Kultur ist politisch. Zur Interkulturalität in der politischen Erwachsenenbildung. In: Magazin erwachsenenbildung.at, Ausgabe 5, S. 08-1 - 08-9. »Link
  • Hamburger, Franz (2009): Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim: Juventa-Verl.
  • Hauenschild, Kathrin/Robak, Steffi/Sievers, Isabel (Hg.) (2013): Diversity Education. Zugänge - Perspektiven - Beispiele.
  • Heinemann, Alisha M. B./Robak, Steffi (2012): Interkulturelle Erwachsenenbildung. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Interkulturelle Bildung, Didaktik und Methodik interkultureller Bildung. »Link
  • Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (2004): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Kronauer, Martin (Hg.) (2010): Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart. Bielefeld: W. Bertelsmann.
  • Mecheril, Paul/Kalpaka, Annita/Castro Varela, Maria do Mar, Dirim, Inci/Melter, Claus (Hg.) (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz (Bachelor/Master).
  • Nohl, Arnd-Michael (2006): Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt : Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Rosen, Lisa/Farrokhzad, Schahrzad (Hg.) (2008): Macht, Kultur, Bildung. Festschrift für Georg Auernheimer. Münster: Waxmann.
  • Scharathow, Wiebke/Leiprecht Rudolf (Hg.) (2009): Rassismuskritische Bildungsarbeit (Rassismuskritik, Bd. 2). Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verl.
  • Sheared, Vanessa/Johnson-Bailey, Juanita/Colin, Scipio A.J./Peterson, Elizabeth/Brookfield, Stephen D. (Hg.) (2010): The Handbook of Race and Adult Education. A Resource for Dialogue on Racism. San Francisco: Jossey-Bass.
  • Sprung, Annette (2002): Interkulturalität - eine pädagogische Irritation? Pluralisierung und Differenz als Herausforderung für die Weiterbildung. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang.

 

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