Genderkompetenz

Heinz Baumann (2006); aktualisiert und ergänzt: Surur Abdul-Hussain (2014)

Der Begriff Genderkompetenz hat sich seit seiner Entstehung Anfang der 2000er Jahre intensiv weiterentwickelt und ausdifferenziert. Genderkompetenz umfasst ein Bündel an Kompetenzen auf der persönlichen, der fachlichen und der strukturellen Ebene. Dabei ist die Fähigkeit zur Analyse von strukturellen Bedingungen und sozialen Interaktionsprozessen genauso wichtig wie die Fähigkeit zur Reflexion. Für diese Fähigkeiten ist fundiertes gendertheoretisches Wissen eine zentrale Voraussetzung. Miteinander vernetzt unterstützen diese Aspekte genderkompetentes Handeln.

 

Definition Genderkompetenz

Genderkompetenz in der Erwachsenenbildung gründet auf einem sozialpsychologisch, biologisch, ethnomethodologisch und diskurstheoretisch, machttheoretisch, rechtlich und politikwissenschaftlich begründeten Genderbegriff. Genderkompetenz bedeutet, erwachsenenbildnerische Kompetenz mit Genderkompetenz zu verknüpfen und Gender als einen zentralen Aspekt menschlichen Miteinanders zu verstehen. Genderkompetenz beschreibt die Fähigkeit, bewusste und theoriegeleitete aktionale Analysen und systematische Reflexionen vornehmen zu können. Dabei werden Praxissituationen, Gruppen, Strukturen, Denksysteme, Organisationen und Institutionen aus Genderperspektive in den Blick genommen. Es geht darum, auf der Basis dieser Analysen und Reflexionen adäquate und gendersensible Handlungen und Interventionen zu entwickeln. Darüber hinaus sollten Erwachsenenbildner_innen Teilnehmer_innen bei ihrem gendersensiblen Handeln unterstützen. (Abdul-Hussain 2012)

 

Abbildung: Genderkompetenz (eigene Darstellung)

Transdisziplinäre Genderkompetenz als Ambivalenzperspektive

Angesichts der Fülle von gendertheoretischen und genderspezifischen Ansätzen in den Disziplinen sowie in Anbetracht der Vielfalt beruflicher und politischer Praxis plädiert auch Sandra Smykalla (2010) für ein transdisziplinäres Verständnis von Genderkompetenz. Sie sieht Genderkompetenz im Spannungsverhältnis von verschiedenen Disziplinen innerhalb der Wissenschaft und gleichzeitig zwischen wissenschaftlicher Theorie und beruflicher/politischer Praxis verortet. Diese Gleichzeitigkeit ist es auch, die sie unter den Begriff Ambivalenz fasst. Eine transdisziplinäre Genderkompetenz als Ambivalenzperspektive hat laut Smykalla die Aufgabe,

 

  • wisseninterdependente Kategorisierungen zu entwickeln,
  • Gender als Analyseperspektive anzuwenden und
  • die Wechselwirkungen von Gender als paradoxes Verhältnis von Theorie und Praxis zu reflektieren.

 

Die zentrale These von Smykalla (2010) ist, "dass Ambivalenzkompetenz statt Differenzierungskompetenz gefragt ist: Nicht lediglich Unterschiede zu sehen und in ihrer Wertigkeit und strukturellen Wirkung einschätzen zu können, sondern sie als Prozess der Unabgeschlossenheit zu behandeln, ist die entscheidende Fähigkeit."

Genderkompetenzsäulen

Für eine so verstandene Genderkompetenz benötigen Erwachsenenbildner_innen und Trainer_innen ein Bündel an Kompetenzen, das sich auf fünf Säulen bezieht, so Abdul-Hussain (2012):

 

  • Wissen: Um aktionale Analysen und systematische Reflexionen vornehmen zu können, brauchen wir fundiertes Wissen zu gendertheoretischen Grundlagen, je nach Aufgabe und Zielsetzung spezifisches Genderfachwissen und Wissen über strukturelle gesellschaftliche Bedingungen. Vor allem gendertheoretische Ansätze können als "Brillen" verwendet werden, um Phänomene zu erkennen.
  • Soziale Kompetenz: Neben allgemeinen sozialen Kompetenzen benötigen wir für eine gendersensible Erwachsenenbildung Wahrnehmungs-, Kommunikations-, Reflexions- und Konfliktlösungskompetenz. Diese brauchen wir insbesondere für Dynamiken, die aufgrund der Thematisierung von Gender, Genderintegritätsverletzungen oder Genderinszenierungen im Lerngeschehen entstehen. Von besonderer Bedeutung ist hier die Fähigkeit, Genderaspekte wahrnehmen und identifizieren zu können.
  • Selbstreflexion: Die Reflexion unserer Positionen, Einstellungen, unserer Gendersozialisation und unserer alltäglichen Genderinszenierungen hilft uns dabei, unsere Genderintegrität und jene unserer Teilnehmer_innen zu wahren. Damit unterstützen wir die Souveränität aller Beteiligten.
  • Handlungskompetenz: Für eine angewandte und konkrete gendersensible Erwachsenenbildung brauchen wir die Fähigkeit, unser Wissen, unsere sozialen Kompetenzen und unsere Selbstreflexion in gendersensibles Handeln weiterzuführen.
  • Methodische Kompetenz: Die Thematisierung, Reflexion und Vermittlung von Gender und Gender Mainstreaming sind mit spezifischen Dynamiken und Herausforderungen verbunden. Daher bedürfen wir spezifischer Methodenkenntnisse für die Gestaltung von Lernprozessen, aber auch für die Implementierung von Gender Mainstreaming.

Sieben Lernfelder für Genderkompetenz

Michaela Gindl, Günter Hefler und Silvia Hellmer (2007) formulieren im dritten Teil des "Leitfadens für gendersensible Didaktik" sieben Lernfelder für Genderkompetenz. Diese Lernfelder können für Lehrende und Trainer_innen oder für Teilnehmer_innen zur Vermittlung von Genderkompetenz herangezogen werden.

 

  • Lexikonarbeit: Lexika und Handbücher zur Genderforschung helfen, einen Überblick über das laufende Forschungsgeschehen und über gegenwärtige und weiter zurückliegende Auseinandersetzungen zu erlangen und zu bewahren.
  • Wissensbasis: Genderkompetenz erfordert, sich auf einzelne genderspezifische Themenstellungen vertiefend einzulassen. Neben den Wissensbeständen wird dabei auch der Umgang mit typischen Denkwerkzeugen in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Themenstellungen erworben.
  • Konzepte: In der Genderforschung wurden unterschiedliche Konzepte entwickelt. Die Konzepte stellen das "Rückgrat" der Arbeit am Genderbegriff dar. Ihre Kenntnis ist unerlässlich, um nachzuvollziehen, welche Bezugnahmen in einzelnen Texten oder in Wortmeldungen von Studierenden oder Teilnehmer_innen hergestellt werden.
  • Bezüge zwischen konkurrierenden Konzepten: Konzepte der Genderforschung stehen zueinander und zu alternativen Forschungsansätzen in einer kritischen Beziehung: Argumente für und gegen einzelne Positionen sind zentral. Ein Grundverständnis für die "Kritikgeschichte" ermöglicht, ein Bezugsnetz herzustellen. Trotz der wechselseitigen Kritik können damit Konzepte vorerst einmal in ihren positiven Aspekten angenommen und verortet werden.
  • Eigene Position und Verortung: Die eigene theoretische Position abzuklären, zählt zu den anspruchsvollen, aber zugleich notwendigen Schritten im Aufbau von Genderkompetenz.
  • Wahrnehmung und Interventionstechniken: Erfahrungen mit Wahrnehmungs- und Interventionstechniken, wie sie in der Prozessberatung, in der Gruppenarbeit und Gruppendynamik entwickelt wurden, sind für gendersensible Didaktik von großer Bedeutung.
  • Selbsterfahrung: Möglichkeiten, die die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion aus Genderperspektive stärken, unterstützen auch die Gendersensibilität.

Qualitätskriterien für genderkompetente gewerkschaftliche Bildungsarbeit

Auf der Basis des Kriterienkatalogs für Schulen des BMUKK hat die Arbeitsgruppe Gender Mainstreaming des VÖGB (Verband österreichischer gewerkschaftlicher Bildung) Genderkompetenzkriterien für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit formuliert. Die Genderkompetenzkriterien beziehen sich auf das konkrete Bildungsgeschehen, die Trainer_innen und die Organisation. Die Qualitätskriterien für genderkompetente gewerkschaftliche Bildungsarbeit bieten hilfreiche Anregungen für eine genderkompetente Praxis in allen Feldern der Erwachsenenbildung.


Hier einige Auszüge:

 

  • Genderkompetente gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist inhaltlich, methodisch, didaktisch und in ihren Rahmenbedingungen so gestaltet, dass sie für Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen gleichermaßen ansprechend und motivierend ist.
  • Genderkompetente Trainerinnen und Trainer reflektieren ihr eigenes Frau- und Mann-Sein, verfügen über Wissen im Bereich Geschlecht und Identitätsentwicklung und bringen allen Personen unabhängig von ihren soziokulturellen Hintergründen und ihrem Geschlecht die gleiche Wertschätzung entgegen. Sie setzen gendergerechte Formulierungen in Wort und Schrift um, sodass Männer und Frauen in ihren vielfältigen Lebensentwürfen gleichermaßen angesprochen werden.
  • Im VÖGB wird Genderkompetenz und Gender Mainstreaming nach innen und außen als Thema mit hohem Stellenwert kommuniziert. Die Mitarbeiter_innen verfügen über Genderkompetenz. Gender Mainstreaming wird in allen wichtigen Planungs- und Entscheidungsprozessen berücksichtigt und es werden überprüfbare Ziele und Maßnahmen bezüglich des Aufbaus von Genderkompetenz und der Umsetzung von Gender Mainstreaming erarbeitet.

 

Die vollständige Fassung finden Sie unter Qualitätskriterien für genderkompetente gewerkschaftliche Bildungsarbeit.

Weitere Informationen

Weiterführende Links

Quellen

  • Abdul-Hussain, Surur (2012): Genderkompetenz in Supervision und Coaching. Mit einem Beitrag von Ilse Orth und Hilarion G. Petzold zu "Genderintegrität". Wiesbaden: Springer VS Verlag.
  • Abdul-Hussain, Surur/Baumann, Heinz (2011): Gut gegen Sexismus - eine E-Mail-KommunikationGenderWerkstätte (Hrsg.) (2011): Über Bewegliches und Brüchiges im Gender Diskurs.
  • Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.) (2008): Gender Kompetenz & Gender Mainstreaming. Kriterienkatalog für Schulen. Erstellt im Rahmen des Projektes GeKoS, Gender Kompetenz-Schulen. »Link
  • Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Arbeitsbereich Wissenschaft und Arbeitswelt (IFF)/Gindl, Michaela/Hefler, Günter/Hellmer, Silvia (2007): Grundlagen der Gendersensibilität in der Lehre. Leitfaden für gendersensible Didaktik, Teil 1.
  • Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Arbeitsbereich Wissenschaft und Arbeitswelt (IFF)/Gindl, Michaela/Hefler, Günter/Hellmer, Silvia (2007): Gendersensibilität im Lernprozess. Leitfaden für gendersensible Didaktik, Teil 2.
  • Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Arbeitsbereich Wissenschaft und Arbeitswelt (IFF)/Gindl, Michaela/Hefler, Günter/Hellmer, Silvia (2007): Gendersensibilität organisieren. Leitfaden für gendersensible Didaktik, Teil 3.
  • Smykalla, Sandra (2010): Die Bildung der Differenz. Wiesbaden: VS-Verlag.
  • GenderKompetenzZentrum (2012): Genderkompetenz & Queerversity. »Link
  • Metz-Göckel/Roloff, Christine (2002): Genderkompetenz als Schlüsselqualifikation. In: Hochschuldidaktisches Znetrum der Universität Dortmund (Hrsg.) (2002): Schlüsselqualifikationen. Journal Hochschuldidaktik, Sommersemester 2002, S. 7-10 »Link
  • Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark (o.J.): GemTrEx - Qualitätsstandards für Gender-TrainerInnen und -ExpertInnen Sokrates/Grundtvig. »Link
  • Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (o.J.): Woran sollen wir uns orientieren? Ein Auszug aus unseren Qualitätskriterien. »Link