Das Dritte Reich und Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg

Beatrix Eder-Gregor, Eva-Maria Speta (2018)

Im deutschsprachigen Raum stellt das Dritte Reich und seine Auswirkungen für den Umgang mit behinderten Menschen eine nicht zu unterschätzende Zäsur dar, die auch heute noch Auswirkungen hat.

 

Das Dritte Reich und seine Auswirkungen

Die heutige Situation inklusiver Bildung im deutschsprachigen Raum kann ohne die Bezugnahme auf die Geschehnisse im Dritten Reich nicht ausreichend verstanden werden. Ab Anfang der 1940er Jahre fand systematischer Massenmord behinderter Menschen statt. Die Grundsteine dafür wurden schon früher gelegt, eugenisches Gedankengut war schon um 1900 weit verbreitet. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in vielen europäischen Staaten Überlegungen zu starken und weniger lebensfähigen Rassen.

 

Dieses Gedankengut führte in der NS-Zeit schrittweise zur Euthanasie von behinderten Menschen. Bereits 1933 wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" beschlossen. Dieses schrieb die Zwangssterilisation bei Erbkrankheiten vor, so auch beim "angeborenen Schwachsinn". Nachdem in den Hilfsschulen viele behinderte Menschen unterrichtet wurden, hatte man dort umfassenden Zugriff auf Menschen, die zwangssterilisiert werden sollten. Es wird angenommen, dass in der NS-Zeit 350.000 Zwangssterilisationen durchgeführt wurden. Die Euthanasiemaßnahmen begannen um 1939.

 

Mit der "Aktion T4" sollten alle Insassen von Heil- und Pflegeanstalten beseitigt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Ärzte mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet. Sie entschieden bisweilen innerhalb von ein paar Tagen über die Leben mehrerer hundert Menschen. Sechs Heime im ganzen Reich wurden gezielt für die Tötung umgerüstet.

 

1942 ging ein Erlass an Anstalten, ihre Insassen unterschiedlich zu verpflegen. Das führte dazu, dass viele BewohnerInnen mit schweren Behinderungen an Entkräftung starben oder verhungerten. Auch der Kreis jener Menschen, die ermordet werden sollten, wurde stetig erweitert. Hatte man anfangs Menschen mit einer starken körperlichern oder geistigen Behinderung bzw. Menschen mit psychischen Erkrankungen im Visier, so kamen nach und nach immer mehr Gruppen dazu.

 

1945 reichte an manchen Orten bereits ein schlechter Herz- oder Lungenbefund, um potentielles Euthanasieopfer zu werden. Nur wenige Menschen mit geistiger Behinderung, die außerhalb ihrer Familien lebten, überlebten das NS-Regime.

 

In der Bundesrepublik Deutschland blieb auch nach Ende des NS-Regimes noch lange der Begriff der "Bildungsunfähigkeit" im Reichschulpflichtgesetz von 1938 erhalten. Gemäß dieser gesetzlichen Bestimmung waren Kinder mit geistiger Behinderung nicht schulpflichtig. Das Recht auf einen Schulbesuch konnte für diese Kinder in Österreich erst in den 1960er und 1970er Jahren durchgesetzt werden.


Auch die Erwachsenenbildung musste nach dem Krieg erst wieder neu aufgebaut werden, die Einbindung von behinderten Menschen war zu diesem Zeitpunkt aber noch kein Thema.

Heilpädagogische Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg

Nach diesem immensen und desaströsen Eingriff der Nazis, konnte die Entwicklung der Heilpädagogik weder im Deutschland noch in Österreich an die Entwicklungen von 1920 anschließen. Die Schweiz war das erste deutschsprachige Land, in dem sich eine akademische Heilpädagogik etablierte. Die in Wien vertretene österreichische akademische Heilpädagogik war sehr stark medizinisch geprägt. Wichtige Vertreter waren Theoder Heller und Hans Asperger. In Deutschland gab es im Unterschied zu Österreich schon in der Weimarer Republik erste Versuche, die Zusatzausbildungen für SonderschullehrerInnen an die Universitäten anzubinden. Die erste deutschsprachige universitäre SonderpädagogInnenausbildung, die nachhaltig Bestand hatte, begann im Wintersemester 1947 an der Humboldt-Universität in Berlin. Mit dem Ausbau der universitären Sonderpädagogik in Deutschland kam es auch zu einer inhaltlichen Ausdifferenzierung. So gab es Lehrstühle für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Geistigbehindertenpädagogik, Lernbehindertenpädagogik etc.


Ab den 1980er Jahren wurde im Zuge des Ausbaus der Diplomstudiengänge für SonderpädagogInnen in außerschulischen Feldern das Aufgabenfeld der Fachrichtungen zunehmend auch im Bereich der lebenslangen Entwicklung gesehen. In Deutschland wurde es in den 1960er Jahren üblich, zwischen „Sonderpädagogik" für den schulischen Bereich und "Heilpädagogik" für den außerschulischen Bereich zu unterscheiden. In Österreich und in der Schweiz konnte sich diese Begriffsunterscheidung nicht durchsetzen. Nach wie vor gibt es unterschiedliche Bezeichnungen für das Fachgebiet. Es steht allerdings nicht mehr in Frage, dass die Heilpädagogik ein Teil der Pädagogik ist. Auch dieser Begriff wurde mittlerweile in "Bildungswissenschaften" umgewandelt. Diese Veränderung kann ebenfalls mit der Ausweitung der Aufgabenstellung des Fachgebietes auf alle Lebensalter - Erwachsene werden nicht mehr "erzogen" - erklärt werden. (Vgl. Biewer 2017)

 

Der sonderpädagogische Blick wurde also erst ab den 1980er Jahren umfassender auf den außerschulischen Bereich gelegt.