Frühe Geschichte: Die "Entdeckung" der Bildsamkeit behinderter Menschen

Beatrix Eder-Gregor, Eva-Maria Speta (2018)

Die Geschichte der Erziehung und Bildung behinderter Menschen ist eng mit der Geschichte der schulischen Bildung von behinderten Kindern verknüpft. Die Anfänge der Überlegungen behinderte Menschen, "trotz" ihrer Behinderung zu unterrichten, bezogen sich in erster Linie auf Kinder und Jugendliche und nicht auf erwachsene Menschen.

 

Die Anfänge: 16.-18. Jahrhundert

Die ersten Überlegungen zur Bildung behinderter Menschen gehen historisch sehr weit zurück. So reichen die allerersten Bemühungen zur Bildung gehörloser Kinder zurück bis ins 16. Jhdt. Das Zeitalter der Aufklärung brachte einen pädagogischen Optimismus mit sich, der im 18. Jhdt. dazu führte, dass mit Methoden experimentiert wurde, die Kindern zugutekamen, die bis dahin von Bildungsangeboten ausgeschlossen waren. Der Priester Charles Michel de l'Epée und Jakob Pereira entwickelten etwa zeitgleich in Frankreich unterschiedliche Methoden zur Kommunikation mit gehörlosen Kindern.

 

In Wien wurde 1779 ein "Taubstummeninstitut" eingerichtet, das zunächst mit Methoden von l'Epée arbeitete, dann zum Unterricht in Lautsprache wechselte. Auch die ersten Versuche zur Bildung blinder Kinder entstammen dem Frankreich dieser Zeit. Valentin Haüy gründete in Paris die erste Blindenschule. Sein Gedanke, den Gesichtssinn durch den Tastsinn zu ersetzen ist bis heute der wesentlichste Grundgedanke bei der Bildung blinder Menschen. Im Weiteren löste sich die Pädagogik für hörbeeinträchtigte Kinder aus den Ursprungsüberlegungen zur Bildung gehörloser Kinder heraus, jene für sehbeeinträchtigte Kinder aus jenen der Bildung blinder Kinder. Diese Entwicklungen fanden Anfang des 20. Jh. statt.

Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert

Heimerziehungsprojekte für verwahrloste Kinder und Jugendliche können als die Anfänge für eine Pädagogik bei Verhaltensauffälligkeiten gesehen werden. Die ersten Projekte wurden bereits Anfang des 19. Jh. durchgeführt. Die ersten Hilfs- und Bildungsmaßnahmen für körperbehinderte Menschen waren als orthopädische Anstalten vordergründig medizinisch orientiert. Die erste Einrichtung dieser Art wurde von Johann Georg Heine 1816 in Würzburg eingerichtet. Die Versorgung mit Hilfsmitteln und Geräten stand im Vordergrund, aber es gab auch schon Aktivitäten, die bereits als eine Form von Unterricht verstanden werden konnten.

 

Die erste Schule für körperbehinderte Kinder war die "Krüppelschule" von Johann Nepomuk Edler von Kurz in München. Auch die ersten Bildungsanstalten für Menschen mit geistiger Behinderung entstanden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. Sie nannten sich Anstalten für Kretine, Blödsinnige und Idioten. Dazu muss festgehalten werden, dass diese Begriffe damals nicht die negative Konnotation aufwiesen, die sie heute haben. Gotthard Guggenmoos unternahm ab 1816 in Hallein bei Salzburg erste Bildungsversuche mit geistig behinderten Kindern. Von ihm wurde erstmals eine Art Lehrplan für den Unterricht mit geistig behinderten Kindern konzipiert. Der Taubstummenlehrer Heinrich Ernst Stötzner, der zeitweise in sogenannten "Idiotenanstalten" arbeitete, verfasste mit seiner Schrift "Schulen für schwachbefähigte Kinder" jenen Text, der heute noch als programmatischer Entwurf für die Entstehung der Allgemeinen Sonderschule (ASO) in Österreich gilt. Er war der erste, der sich für die Einrichtung eigenständiger Institutionen für behinderte Kinder aussprach.

"Heilpädagogik"

Der Begriff "Heilpädagogik" wurde 1861 von Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt eingeführt. 1856 eröffneten sie gemeinsam in einer Villa in Baden bei Wien die "Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana". Das Angebot umfasste Beschäftigung, Spiel und Gymnastik. Es dauerte einige Zeit, bis das Angebot tatsächlich genutzt wurde, aber ab Juni 1856 erfreute sich das Angebot so großer Beliebtheit, dass ein größerer Standort gesucht werden musste, der schließlich in Schloss Liesing gefunden wurde. In der Einrichtung lebten und arbeiteten ÄrztInnen, LehrerInnen, KünstlerInnen und ErzieherInnen.

 

Georgens wollte Schloss Liesing zu einer Musteranstalt ausbauen, die eine Gesunden- und eine Krankenabteilung umfasste. Zu gewissen Zeiten hatte die Einrichtung 30 Zöglinge zu betreuen, nur etwa ein Drittel davon war behindert. Georgens großes Verdienst liegt darin, dass er schon damals festestellte, dass heilpädagogische Maßnahmen im Unterschied zur Gesundenerziehung individualisierend vorgehen müssen. Außerdem hielt er fest, dass der Umgang der behinderten Kinder ("Idioten") mit den gesunden Kindern eine positive Wirkung auf ihren Heilungsprozess hatte. Es finden sich hier - umgelegt auf den heutigen Sprachgebrauch - also bereits erste Gedanken zu den Vorteilen eines inklusiven Settings.

Beginn des 20. Jahrhunderts - die Hilfsschulen

Das ausgehende 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts waren geprägt von einem kontinuierlichen Ausbau vergleichbarer Einrichtungen und der weiteren fachlichen Entwicklung. Für das Verständnis der heutigen Situation inklusiver Bildung im deutschsprachigen Raum ist es wichtig, auch die Entstehung der Hilfsschulen zu berücksichtigen. Diese entwickelten sich aus den sogenannten "Idiotenanstalten". Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht brachte es mit sich, dass die Klassenzimmer übervoll waren und die LehrerInnen mit der zunehmenden Heterogenität unter den SchülerInnen nicht mehr zurechtkamen.

 

Als Hilfe für die "geistig schwachen" Schüler und Schülerinnen und als Entlastung für die allgemeinen Volksschulen wurden eigene Einrichtungen für behinderte Kinder gegründet. Es ist bemerkenswert, dass mit derselben Argumentation auch heute noch gegen inklusive Schulen argumentiert wird. Während damals Schulen für Kinder mit Sinnesbehinderungen durchaus von pädagogischen Zielsetzungen geprägt waren, verfolgten Schulen für geistig behinderte Kinder eher den Anspruch der Verwahrung.