Bildungswissenschaftliche Ansätze zu Diversitätsmanagement

Surur Abdul-Hussain und Roswitha Hofmann (2013)

Die Auseinandersetzung mit Diversität in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft begann in den 1980er Jahren. Sie konnte dabei auf bereits bestehenden Theorien wie zum Beispiel feministischen Ansätzen, interkultureller Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Behinderten- und Heilpädagogik oder der Friedenspädagogik aufbauen. In den 1990er Jahren kam die verstärkte Beschäftigung mit Geragogik im Sinne des lebenslangen Lernens hinzu. Die ersten dimensionsübergreifenden Ansätze wie die Pädagogik der Vielfalt von Annedore Prengel, Inklusionsansätze in der Erwachsenenbildung, die Integrative Agogik oder der intersektionale Ansatz nach Gudrun Perko und Leah Carola Czollek nehmen viele Diversitätsdimensionen in den Blick. Sie etablieren aber auch einen Umgang mit Diversität in Bildungsprozessen vor ethischen und politischen Überlegungen.

 

Pädagogik der Vielfalt

Dieser Ansatz wurde von Annedore Prengel entwickelt und 1993 erstmals publiziert. Auch wenn sie sich mit schulischem Lernen beschäftigt, lässt sich ihr Konzept in der Erwachsenenbildung nutzen. Im Mittelpunkt der Pädagogik der Vielfalt steht die Anerkennung von Lebensweisen in ihrer Pluralität. Dabei versteht Prengel Diversität und Gleichheit nicht als Gegensatzpaar, sondern als einander bedingend: "Denn Gleichheit ohne Offenheit für Vielfalt würde eine das andere ausgrenzende Angleichung bedeuten und Vielfalt ohne Gleichheit eine das andere unterordnende Hierarchisierung des Verschiedenen." (Prengel 2007) Prengel legt der Pädagogik der Vielfalt demnach das Theorem der "egalitären Differenz" (1993) zugrunde. Menschenwürde und Freiheit im Sinne der Menschenrechte sind genauso Grundprinzipien wie der Fokus auf die Kerndimensionen von Diversität.


Für die Praxis bedeutet dieser Ansatz, Lernarrangements zu gestalten, in welchen alle anerkannt werden, sich entfalten und ihre Würde bewahren können. Dies ist möglich durch partizipative Methoden, die egalitäre Teilhabe aller Teilnehmer_innen und individuelle Lernmöglichkeiten. Prengel verwendet dafür einerseits das Bild des Sesselkreises. Im Sesselkreis können alle aus egalitären Positionen heraus miteinander sprechen. Und andererseits das Bild des freien Spiels, in dem alle Teilnehmer_innen ihren Bedürfnissen und ihrer Neugier nachgehen können.


Weitere Informationen: Prengel, Annedore (2007): Diversity Education - Grundlagen und Probleme der Pädagogik der Vielfalt. In: Krell, Gertraude/Riedmüller, Barbara/Sieben, Barbara/Vinz, Dagmar (Hg.): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 49-68.

Inklusive Erwachsenenbildung

Der Inklusionsansatz hat seinen Ursprung in der Behinderten- und Heilpädagogik. Er ging aus der Kritik an pädagogischen Integrationsansätzen für behinderte Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer hervor. Kritisiert wird an der Integration, dass behinderte Kinder und Erwachsene an Bildungsprozessen zwar teilnehmen können, von ihnen aber eine (soziale) Anpassung an das System erwartet wird. Das System verändert sich aber nicht. Demgegenüber setzt Inklusion den Fokus auf das System und die dem System innewohnenden Prozesse. Inklusion bedeutet in der wörtlichen Übersetzung Einbezogensein oder Einschluss. Salopp gesagt gehören in dieser Philosophie alle dazu. Inklusion fokussiert daher organisational gesehen auf die Einbeziehung aller. Sozial gesehen meint Inklusion ein mitmenschliches Miteinander aller Beteiligten. Auf der individuellen Ebene ist Inklusion ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Angenommenseins und der sozialen Vernetzung.


Inklusion hat mittlerweile einen festen Platz in vielen Diskursen zu Diversitätsmanagement und bezieht sich auf alle Kerndimensionen von Diversität. Inklusive Erwachsenenbildung verabschiedet sich daher von einer ausschließlichen Zielgruppenorientierung. Sie setzt in ihren Angeboten auf eine reflektierte und differenzierte Zielgruppenorientierung zusammen mit einer Themenorientierung. Inklusive Erwachsenenbildung sorgt für einen organisational-systemischen, sozialen und individuellen Einbezug aller Teilnehmer_innen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer Hautfarbe und Ethnizität/Nationalität, ihren Behinderungen und Beeinträchtigungen, ihren sexuellen Orientierungen sowie ihrer Religion oder Weltanschauung.

Integrative Agogik

Der integrative Therapie-, Beratungs-, Supervisions- und auch Bildungsansatz wurde von Hilarion Petzold, Johanna Sieper und vielen anderen gemeinsam entwickelt. Der integrative Ansatz hat ein pluriformes Wirklichkeitsverständnis und arbeitet daher multidisziplinär und mehrperspektivisch, denn: "Vielfalt will vielfältig betrachtet werden." (Petzold 1998) Der Integrativen Agogik liegt die ethische Orientierung an Integrität zugrunde. Integrität meint die Erhaltung der Identität von Menschen, Gruppen und ökologischen Gegebenheiten sowie deren Entwicklung und Entfaltung (Petzold 1978c). Mit dieser Ethik und ihrem Menschenbild bietet die Integrative Agogik wesentliche Grundlagen für eine diversitätssensible und inklusive Erwachsenenbildung.


Den Begriff Integrative Agogik haben Petzold und Sieper gewählt, weil sie lebenslanges Lernen als ganzheitlichen und differentiellen Ansatz für alle Lebensalter sehen - Pädagogik, Andragogik, Geragogik. Das Menschenbild des integrativen Ansatzes versteht Menschen, Frauen und Männer, als Körper-Seele-Geist-Wesen (Leibsubjekte). Diese sind in ihrer ökologischen und sozialen Lebenswelt und Lebenszeit eingebettet (Petzold 2007c). Dementsprechend versucht Integrative Agogik "kognitive, emotionale, somatomotorische und soziale Lernprozesse und -ziele im lebensweltlichen Kontext/Kontinuum zu verbinden, integriert also rationale Einsicht, emotionale Berührtheit, leiblich konkretes Erleben und soziale Interaktion zu ,persönlich bedeutsamem Lernen' als Erfahrungen von ,vitaler Evidenz'." (Petzold/Sieper 2011) Integrative Agogik bezieht also die Lebenswelt der Teilnehmer_innen als sozialen Kontext und als lebenszeitliche Perspektive ein. Sie ermöglicht Körper-Seele-Geist-Lernen. Das setzt eine vielfältige Methodik und Didaktik voraus. In der Integrativen Agogik kommen daher vor allem erlebnisaktivierende Methoden und kreative Medien zum Einsatz. Auf diese Weise werden Sach- und Affektlernen miteinander verbunden. Diese Vorgehensweise ermöglicht Partizipation und individuelles Lernen für alle Teilnehmer_innen.

 

Gender- und diversitygerechte Didaktik: ein intersektionaler Ansatz

Dieser Ansatz wurde 2008 von Gudrun Perko und Leah Carola Czollek publiziert. Ihr Verständnis von Intersektionalität bezieht sich nicht nur auf die Verschränkung und Verwobenheit von Diversitätsdimensionen. Sie verstehen Intersektionalität auch als politisierten Ansatz der Vernetzung von bestehenden Theorie- und Handlungsansätzen. Ihre Konzeption zeigt "ein Diversity Modell, in dem Differenzlinien und gesellschaftliche Regulativa, über die der Status von Menschen bestimmt wird, reflektiert und mit einem intersektionalen Zugang in der Praxis berücksichtigt werden" (Perko/Czollek 2008). Die Autorinnen verweben dabei politische Orientierungen und Ziele bestehender Ansätze (siehe Abbildung) zugunsten sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen, unabhängig von dem jeweiligen kulturellen Hintergrund, von Religion, Hautfarbe, Alter, Geschlecht, Geschlechterrolle, sexueller Orientierung, Klasse sowie körperlicher Verfasstheit und unabhängig von der "Nützlichkeit" des jeweiligen Menschen.

 

Abbildung: Ganzheitliches Diversitykonzept (Quelle: Perko/Czollek 2008)


In der Praxis bedeutet dieser Ansatz, Verschiedenheit, Vielfalt und Heterogenität in mehr oder minder homogenen Institutionen und Praxen zu berücksichtigen. Er setzt bei bestehenden Gesellschaftsanalysen an und nimmt jene Ansätze auf, denen es um die Aufhebung von Hierarchien geht. In der Umsetzung fokussiert dieser Ansatz auf die Bildungseinrichtung. Sie ist herausgefordert, ihre Motivationen, ihre Organisationsstruktur, ihre Angebote und ihre Organisationskultur im Sinne eines Organisationsentwicklungsprozesses zu analysieren, zu reflektieren und entsprechende Maßnahmen zu setzen.

 

 

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Weitere Informationen

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Quellen

  • Abdul-Hussain, Surur (2009): Über Diversity integrativ ko-respondieren. Grundlagen Integrativer Theorie und ihre Bedeutung für den Umgang mit Diversität. In: Abdul-Hussain, Surur/Baig, Samira (Hg.): Diversity in Supervision, Coaching und Beratung. Wien: facultas.wuv, S. 172-204.
  • Heimlich, Ulrich/Behr, Isabel (2011): Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung. In: Tippelt, Rudolf/Hippel, Aiga von (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. 5. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag.
  • Pauser, Norbert (2009): Exklusive Behinderungen! Inklusive Beratung? In: Abdul-Hussain, Surur/Baig, Samira (Hg.): Diversity in Supervision, Coaching und Beratung. Wien: facultas.wuv, S. 141-171.
  • Perko, Gudrun/Czollek, Leah Carola (2008): Gender und Diversity gerechte Didaktik: ein intersektionaler Ansatz. In: Magazin erwachsenenbildung.at: Gender und Erwachsenenbildung - Zugänge, Analysen und Maßnahmen, 3, S. 07-1-07-25. »Link
  • Petzold, Hilarion G. (1978c): Das Ko-respondenzmodell in der Integrativen Agogik. In: Integrative Therapie 1, S. 21-58.
  • Petzold, Hilarion G. (1998a): Integrative Supervision, Meta-Consulting & Organisationsentwicklung. Modelle und Methoden reflexiver Praxis. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann Verlag.
  • Petzold, Hilarion G. (2011): Integrative Therapie Kompakt. Definitionen und Kondensate von Kernkonzepten der Integrativen Therapie - Materialien zu "Klinischer Wissenschaft" und "Sprachtheorie". POLYLOGE: Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit. Eine Internet-Zeitschrift für "Integrative Therapie", Ausgabe 01/2011 »Link
  • Petzold, Hilarion G./Sieper, Johanna (2011): Integrative Agogik - ein kreativer Weg des Lehrens und Lernens. In: SUPERVISION: Theorie - Praxis - Forschung, 6. »Link
  • Prengel, Annedore (2007): Diversity Education - Grundlagen und Probleme der Pädagogik der Vielfalt. In: Krell, Gertraude/Riedmüller, Barbara/Sieben, Barbara/Vinz, Dagmar (Hg.): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 49-68.