Micro-Credentials: ein Instrument der Inklusion?
Der Rat der Europäischen Union hat schon 2021 eine Empfehlung für EU-weite Micro-Credentials ausgesprochen. Darin sind Micro-Credentials definiert als Nachweise über die Lernergebnisse, die ein/e Lernende/r im Rahmen einer kürzeren Lerneinheit bzw. Weiterbildung nachweislich erzielt hat.
Micro-Credentials sollen die Inklusion fördern und den Zugang zur Bildung erleichtern, so die Empfehlung.
Angebote der Erwachsenenbildung sind typischerweise als solche kleine Lerneinheiten konzipiert. Wenn auch schon kleine Einheiten sichtbar etwas wert sind, kann lebenslanges Lernen dadurch attraktiver werden, lautet die Grundidee. Wenn diese Nachweise dann noch „stapelbar“ mit anderen Nachweisen zusammengesetzt werden können, fördert das ihre Verwertbarkeit und damit ihre Attraktivität.
Inklusionspotenziale von Micro-Credentials
Das formulierte Ideal in der Ratsempfehlung kommt einigen genuinen Anliegen der Erwachsenenbildung entgegen: Lernende sollen auch für kleinere Lerneinheiten sichtbare Anerkennung erhalten, und das Zusammenbauen von Micro-Credentials zu einer größeren Qualifikation oder Bildungseinheit soll motivierend wirken. Damit könnten Micro-Credentials auch jene Personen ansprechen, die über keine anerkannte Basisqualifikation verfügen und damit am Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Potenziell fördern Micro-Credentials das Konzept des lebenslangen Lernens, indem sie kontinuierliche Bildungsmöglichkeiten für Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe bieten. Und wenn Micro-Credentials (wie Badges) für Online-Angebote vergeben werden, können sie speziell die Online-Bildung aufwerten, die generell ein Inklusionspotenzial für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen hat.
Je nach Vergabe und Ausgestaltung könnten Microcredentials auch dazu beitragen, informell erworbenen Kompetenzen anzuerkennen: Der Erwerb von Microcredentials ist nach der Bewertung von Lernergebnissen möglich, die entweder durch einen spezifischen Kurs oder auf der Grundlage der Bewertung von Lernergebnissen aus nicht-formalem und informellem Lernen erzielt wurden – so eine Info-Broschüre der Europäischen Kommission.
Praxisbeispiele für inklusiv wirksame Credentials
Die Umsetzung erster Mico-Credential-Programme in Europa wurde 2023 im Auftrag der Europäischen Kommission von CEDEFOP beforscht. Erste Ergebnisse belegen, dass es in der europäischen Erwachsenenbildung bereits diverse lohnende Umsetzungen, aber auch noch reichlich ungenutztes Potenzial zum Thema gibt. Gerade niederschwellige Microcredentials-Angebote für bildungsbenachteiligte Gruppen sind eher rar und kommen vor allem als „Micro-Credential-Äquivalente“ im Bereich der Arbeitsmarktverwaltungen vor.
So bietet das Amt für Arbeitsvermittlung in Litauen ein breites Spektrum an Kurzzeitschulungen für Arbeitssuchende an, um den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Das dänische AMU-System unterstützt Menschen mit einer Vielzahl von kurzen Modulen und richtet sich speziell an Menschen ohne Ausgangsqualifikation. Und in Spanien stellen Mikroausbildungen (die als Micro-Credentials betrachtet werden können) Teilakkreditierungen von Kompetenzen dar, die akkumuliert werden können. Diese Angebote kommen entsprechend dem CEDEFOP-Report dem Modell der Micro-Credentials nahe und unterstützen die Inklusion am Arbeitsmarkt.
In ähnlicher Weise können Micro-Credentials wirken, die informell erworbene Kompetenzen bescheinigen. Beispielsweise wird in Deutschland das groß angelegte Bewertungsprojekt MySKILLS von der deutschen Arbeitsverwaltung in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung durchgeführt und bewertet die jeweils am Arbeitsplatz erworbenen Kompetenzen. Damit unterstützt es jene, die über langjährige Praxis ohne Zertifikat verfügen.
Bedingungen für eine inklusive Wirkung von Micro-Credentials
In Österreich haben bisher vor allem die Universitäten begonnen, Micro-Credentials für ihre eigenen Angebote auszustellen. In einem Positionspapier wurde sogar der Anspruch formuliert, dass Micro-Credentials nur von Universitäten vergeben werden dürfen. Das deckt sich nicht mit der EU-Ratsempfehlung und wäre dem inklusiven Potenzial von Micro-Credentials nicht vollumfänglich gerecht. Als erste und grundlegende Bedingung für Micro-Credentials mit inklusiver Wirkung ist vielmehr zu fordern, dass diese auch Menschen ohne Hochschulzugang adressieren, also aus dem Feld der Erwachsenenbildung stammen.
Eine zweite Gelingensbedingung für inklusiv wirksame Credentials ist mit ihrer Verwertbarkeit verbunden. Lernende fühlen sich durch Micro-Credentials vor allem dann motiviert, wenn die Nachweise zu einem größeren Ganzen stapelbar sind und auch am Arbeitsmarkt einen Wert haben. Glaubwürdigkeit am Arbeitsmarkt entfalten Micro-Credentials jedoch nur, wenn sie einerseits qualitätsgesichert sind (und das idealerweise durch Dritte) und wenn die bestätigten Lernportionen nicht allzu klein sind (ein Zertifikat über 20 Vokabel hat keine positive Signalwirkung). Man könnte auch sagen: Sie müssen eine relevante Kompetenz bescheinigen. Würden zum Beispiel Credentials im Bereich arbeitsbasierter Trainings zum reinen Beleg für Social Skills werden, wäre das eine Fehlentwicklungen. Eine Anerkennung der klassischen (nicht fachbezogenen) „Arbeitstugenden“ (wie Flexibilität oder Zuverlässigkeit) durch Micro-Credentials oder Badges darf auch für benachteiligte Gruppen eine wertige Berufsausbildung nicht ersetzen.
Vorerst bleibt unklar, ob eine inklusive Wirkung von Micro-Credentials tatsächlich gelebt werden kann.
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