Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) aus Sicht der Erwachsenenbildung

24.04.2024, Text: Irene Cennamo und Diana Vogetseder, Universität Klagenfurt, Redaktion: Redaktion/CONEDU
Umweltbildung war schon lange vor den 2015 formulierten Nachhaltigkeitszielen Thema der Erwachsenenbildung. Ist BNE wirklich so neu?
Hände halten junge Pflanze mit Erde
Umweltbildung hat eine lange Tradition in der Erwachsenenbildung.
Foto: CC BY, Tim Reckmann, https://ccnull.de/

Nachhaltigkeitsdiskurse sind sowohl in der bildungswissenschaftlichen Theorie als auch in den pädagogischen Handlungsfeldern und nicht zuletzt in der Bildungspolitik zu einem relevanten Thema, beinahe zu einem Hype, herangereift. Ein Blick in die Vergangenheit der Erwachsenenbildung zeigt jedoch, dass sich die Erwachsenenbildung nicht erst seit 2015, d.h. mit dem Beschluss der SDG‘s, ihres gesamtgesellschaftlichen Bildungsauftrags im Bereich sozialer und ökologischer Gerechtigkeit bewusst geworden ist. Vielmehr hat sie BNE im Kontext von Umweltbildung und -bewusstsein schon früher betrieben. Die bildungspolitische Narration, dass das Thema „Nachhaltigkeit“ für Individuum, Gesellschaft und Wissenschaft neu und und eine normativ steuernde Notwendigkeit sei, gilt es daher zu hinterfragen.

Öko-soziales Engagement: Thema der Erwachsenenbildung seit jeher

In der offiziellen BNE-Literatur und Bildungspolitik ist die Sichtbarkeit von Erwachsenenbildung als erziehungswissenschaftliche Subdisziplin und ihre community-basierte und kritisch-emanzipatorische Seite (Stichworte: Gemeinwesenorientierte Erwachsenenbildung, Popular Education) oft gering. Dabei nahmen bildungsaktivistische Praxisfelder bereits Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts österreichweit sowie international einen besonderen Stellenwert ein. Denn sie wirkten auch abseits von organisierter Bildung: Das neo-kapitalistische System hat Sorge- und Communityarbeit diskursiv auf den Privatbereich der Individuen verdrängt. Damit blieben am Gemeinwohl orientierte kritisch-emanzipatorische Bildungsaktivitäten auf der Ebene des offiziellen, verwertbaren (Weiter-)Bildungssystems wie auch der BNE-Bemühungen häufig im Verborgenen. Dabei lassen sich vielfältige unzählige, historisch gewachsene Traditionen sowie Grassroot-Bewegungen bei näherer Betrachtung aufspüren:

Projekt macht „grüne“ Bildungstraditionen sichtbar

Das Erasmus+ Projekt CEduP sowie diverse Bildungsbeispiele im Wirkungsraum Klagenfurt wie etwa das Projekt „Initiatives Viktring“, das Örtliche Bildungswerk Magdalensberg sowie einzelne Vereine beispielsweise am Keutschacher See, die sich um die Pflege des Moores kümmern, und/oder das Ferlacher Kultur- und Handwerkhaus zeigen, dass BNE-Modelle schon vor-/gelebt und andragogisch praktiziert werden.

Es sind häufig Orte gemeinschaftlich orientierter Bildungsarbeit wie etwa der im CeduP-Projekt beispielhaft erwähnte „Gemeinschaftsgarten Kollitschkeusche“ (siehe CEduP-Broschüre - PDF), wo Menschen selbstorganisiert und unter Einbezug der jeweiligen individuellen Fähigkeiten kollektiv sozial-ökologische Sorgeverantwortung für Lebensraum, Individuum und die örtliche Bevölkerung übernehmen.

Diese (öko-)solidarischen Praxen haben häufig ganz konkrete Auswirkungen darauf, wie wir leben, wie wir (als Gesellschaft) zusammenarbeiten (wollen) und sind oft Impulsgeber für weitere solidarische Handlungen. Diese Praxen sozial-ökologischer Gerechtigkeit sind den Projektbeteiligten jedoch noch nicht unbedingt als Strategien des aktiven Klimaschutzes und der Klimagerechtigkeit oder als emanzipatorische Ansätze der Gleichwertigkeit von Interessen aller Lebewesen bewusst. Dies zeigt die Projektbeschreibung, wenn man sie wissenschaftlich analysiert. Weitere erwachsenenbildungswissenschaftliche Reflexionen im Rahmen gemeinsamer Gespräche und Aufarbeitungen sind daher notwendig.

Freie Bildungspraxen im Kontext neoliberaler Ökonomien

Community-basierte Lernorte sind mit Foucault machtkritisch betrachtet immer eingebettet im Kontext der jeweiligen Politik, der Umstände und der Ökonomie eines bestimmten Moments, der Zeit, des Ortes und einer Reihe von Schieflagen, Kämpfen und Wünschen (siehe dazu z.B. „Handbook of Critical and Indigenous Methodologies“). Es fragt sich daher: Wie sind Weiterbildungsangebote in neoliberale Wirtschaftslogiken verflechtet, die eventuell bestrebt sind, auch bislang verdunkeltes, indigenes, lokales Wissen zu nachhaltigem Leben in eine marktförmige Ware zu verwandeln? Diese Frage stellt sich insbesondere dort, wo die individuelle Ebene verstärkt adressiert wird und strukturelle Ursachen wie Postwachstum, koloniale Kontinuitäten, Rassismus und andere Ungleichheitsmechanismen, die systematisch nicht nachhaltige Praxen vorantreiben, seltener in Bildungsprogrammen auffindbar sind (siehe dazu auch Beitrag „Transformative Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ im Buch „Nachhaltigkeit und Soziale Arbeit“).

Beispiel Repair Café: Gelebte Praxis mit emanzipatorischem Charakter

Die Analyse von CEduP zeigt: Umweltbewusste Erwachsene wirken bereits andragogisch und tragen auch weiterhin zur kritischen Bewältigung und Veränderung einer ausschließlich „imperialen Lebensweise“ bei. Die Bildungsveranstaltungen des Projekts sind de-kolonial und intersektional. Als Best Practice kann hierbei exemplarisch das Repair Cafè als Community-Education-Methode genannt werden. Dieses erhält durch den Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur thematisch seinen emanzipatorischen Charakter, sondern auch durch das Ziel der Bewusstseinsbildung.

Transformative Bildung braucht mehr

Die latente Skandalisierung durch die Sichtweise der BNE von angeblich zu gering weitergebildeten Erwachsenen sollte im Sinne der emanzipatorisch-kritischen Praxis und Grassroot-Traditionen der Erwachsenenbildung hinterfragt werden. Folgende Sorge bleibt bezogen auf das CEduP mit der europäisch geförderten BNE-Ausrichtung ebenfalls aufrecht: Kann wirklich davon ausgegangen werden, dass die Teilnahme an einer nachhaltigen Bildungsinitiative oder das Mit-Gestalten von community-basierten Projekten bereits ausreichen, um ein individuelles und kollektives kritisches Lernen und Bewusstsein für Mensch- und Umweltgerechtigkeit zu schaffen? Obwohl dies gewiss auch durch die sozial-ökologischen Handlungen der Gemeinwesen orientierten Bildungsinitiativen teilweise (unbewusst/unreflektiert) geschehen mag, bedarf die fortgeschrittene Klimakrise mehr als einer bewusstgewordenen Kritik am Bestehenden oder einer ausschließlich top-down Steuerung wie am Beispiel der SDGs-Bildungsziele.

Für ein nach vorne gerichtetes, antizipatorisches Lernen (und eine transformative Bildung) sowie ein verändertes Handeln ganzer Gemeinschaften und der nicht-nachhaltigen Gesellschaften bedarf es vermutlich noch eines weiteren Schrittes: Gemäß der Deleuzschen Perspektive braucht es nach Braidotti 2006 nämlich die Anerkennung einer empathischen Ko-Präsenz von kollektiver und struktureller Schieflage und die Transformation dieses bewusst gewordenen „Schmerzes“ (um die ökologischen Krisen) in eine kollektive verändernde Aktion. Ein empathisches Mitfühlen, Care-Verantwortung, ein ganzheitlich-gerechtes Nachhaltigkeitskonzept, ein international vergleichender und weltweiter Blick sowie eine engere Zusammenarbeit mit den genannten community-basierten (lebensnahen) Feldern der Erwachsenenbildung auch von Seiten der (Allgemeinen) Erziehungswissenschaft, sind in der gegenwärtigen BNE-Debatte ausständig.

BNE: Nicht alle sind im gleichen Boot

Die Ausführungen haben gezeigt: Die proaktive Auseinandersetzung mit „Nachhaltigkeit“ sind dem sozial-ökologisch bereits „erwachten“ Erwachsenen in der Gemeinwesen orientierten Erwachsenenbildung und im Kontext „freier“, an der regenerativen Seite von Weiterbildung interessierten Gemeinschaft, durchgängig präsent. Die Diskurse um Sorge und Fürsorge für sich, die Mitmenschen und die Umwelt sind ein zentrales andragogisches Thema sowie Gegenstand der community-basierten Erwachsenenbildung.

Gleichwohl muss dabei von der Erwachsenenbildungswissenschaft verstärkt berücksichtigt werden, dass wir nicht alle im gleichen „Boot der BNE“ sitzen: „'We' Are In This Together, But We Are Not One and the Same“, schrieb Braidotti 2020 dazu. Es sind häufig die am meisten Marginalisierten, die sich für nachhaltiges Leben, Wohnen, Wirtschaften und Arbeiten einsetzen und widerständig ihren durch technokapitalistische Ausbeutung zerstörten Lebensraum verteidigen (siehe dazu Beitrag „Environmental conflicts and defenders: A global overview“), während nicht-nachhaltige Gesellschaften die BNE erst entdecken.

Fazit: Sozial-ökologisches Engagement passiert nicht erst seit BNE-Aufkommen

Die aus dem CeduP hervorgegangenen Leitlinien unterstreichen die gute Praxis nachhaltigen gemeinschaftlichen Engagements und verweisen auf Erfolgsaspekte für gelingende Community-Education-Prozesse im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. Erwachsene können/wollen sich sehr wohl nachhaltig weiterbilden und tun dies bereits erfolgreich. Viele Bildungsaktivist*innen oder Gemeinschaften bemühen sich schon lange kritisch und widerständig, nicht zuletzt ehrenamtlich für solidarische und ökologische Konzepte und Lebensarten. Das wurde jedoch historiographisch gegenüber der am Arbeitsmarkt verwertbaren Weiterbildung verdunkelt. Unter diesem Aspekt fragt sich: Inwiefern kann BNE aus der Sicht der transformativen Bildung als originär neuartiges Konzept angesehen werden?

Dem bereits bestehenden zivilgesellschaftlichen erwachsenenpädagogischen Verdienst für das Gemeinsame und jenen Einrichtungen, die diese unterstützen und beraten, gebührt (zumindest erwachsenenbildungswissenschaftlich) eine angemessene Sichtbarkeit. Das bildungsrelevante Potential in gemeinwesenorientierten Praxen für Gesellschaft, (Bildungs-)Politik und Scientific Community muss erneut aufgezeigt werden.

Hinweis der Autorinnen: Der Text basiert auf einem Austausch mehrerer Akteur*innen aus Wissenschaft und Praxis und verschränkt diese Perspektiven. Der Text steht daher in Verbindung mit den Blogbeiträgen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) aus Sicht der Erwachsenenbildung und „Green Community Education“ in der Erwachsenenbildung umsetzen.

Über die Autorinnen: 

Irene Cennamo arbeitet als Assistenzprofessorin an der Universität Klagenfurt im Bereich Erwachsenenbildung und berufliche Bildung. Sie forscht zu community-basierter Weiterbildung und Care-bezogenen Lerninteressen von Erwachsenen sowie zu am Gemeinwesen orientierter Erwachsenenbildungswissenschaft und -praxis. Diana Vogetseder studiert Erwachsenenbildung und berufliche Bildung an der Alpen- Adria-Universität Klagenfurt und arbeitet als Studienassistenz am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sowie als Projektmitarbeiterin bei „Natur im Garten Kärnten“ des Kärntner Bildungswerks. Sie begleitet außerdem ehrenamtlich Jugendliche im Übergang von Pflichtschule in die weiterführende Ausbildung. 

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