Reizwort Bildung

25.08.2017, Text: Andre Blau und Andrea Motamedi , Redaktion: Renate Ömer, BhW Niederösterreich/Ring ÖBW
Andre Blau und Andrea Motamedi setzen sich in diesem Essay sprachkritisch mit dem Wort "Bildung" auseinander. Bedeutungsmäßig stellen sie ihm das "Lernen" gegenüber und entwickeln eine bildungspsychologische Vision.
Bild: CC BY CONEDU/Kulmer, "Plan B", auf erwachsenenbildung.at
Nein! Nicht schon wieder! Was ist über Bildung in letzter und vorletzter Zeit nicht schon alles geschrieben und gesagt worden ...

 

Versuch einer Orientierung

Die Menge an Komposita, an zusammengesetzten Hauptwörtern mit dem Kopf- oder Kernwort Bildung ist gewaltig und zum Teil nervig inflationär: Bildungspaket, Bildungsreform, Bildungsberatung, Bildungsniveau, Bildungskarenz, Allgemeinbildung, Schulbildung, Volksbildung, Herzensbildung, Erwachsenenbildung etc. - nicht zu vergessen die Menge an Vorsilben (Präfixa), die, dem Wörtchen vorangestellt, noch eine Menge an verschiedensten Assoziationen beizusteuern imstande sind: Ausbildung, Einbildung, Abbildung, Vorbildung, Fortbildung ...

 

... und kein Ende ...

Freilich ist unser Hauptwort (Nomen) "Bildung" auch recht flott tätig-verbal mit dem Wort "bilden" unterwegs, aber auch dem Zeitwörtchen "bilden" haftet etwas derart Großes an, dass es, kaum ausgesprochen, rasch wieder hauptwörtlich verstanden, zum "Bilden" wird. Der Pathos von Bildung, Bilden und Gebildet-Sein bringt es mit sich, dass eine be- um nicht zu sagen erdrückende Schwere die Wörter begleitet. Und wo Schwere ist, verschwindet bekanntlich die Leichtigkeit bzw. ist sie schon längst verschwunden.
Schade eigentlich ...

 

Vom B-Wort zum L-Wort

Es ist kaum mehr möglich, sich ein Bild davon zu machen, was denn Bildung eigentlich ist. Gestatten wir deswegen vielleicht dem so wichtigen Hauptwort Bildung, sein Haupt zu senken und im Hintergrund zu verschwinden, und lassen stattdessen ein kleineres Tätigkeitswort alias Zeitwort, alias Verb die Bühne betreten: lernen.

 

„Aber Hallo!", werden jetzt vermutlich einige einwenden, „ist aber auch nicht gerade klein, und hauptwörtlich verwendet wird's allemal, das Lernen, oder?!"

 

Stimmt.

 

Dennoch ist Lernen etwas, das durchaus spielerisch, beiläufig, so nebenbei passieren kann. Dieses lockere Lernen ist von den Expertinnen und Experten mit dem etwas unlockeren Begriff inzidentelles bzw. implizites Lernen versehen worden.

 

Wie Atmen ...

Lernen passiert andauernd. Man kann nicht nicht lernen.

Wer aufhört zu lernen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach tot.

Lernen passiert bei und mit allen Sinneseindrücken.

 

Im Urlaub eine Straße erstmals zu betreten bedeutet bereits Lernen. Neue Eindrücke, vielleicht in einer fremden Sprache, werden wahrgenommen und gemerkt, um sich zu orientieren. Ein neues Auto oder Leihauto zu verwenden bedeutet, die Eigenschaften dieses Fahrzeugs kennenzulernen und also zu lernen. Eine neue praktische App oder ein interessantes Computerspiel zu verwenden bedeutet Lernen. Jemanden kennenzulernen bedeutet Lernen, sich das Gesicht, die Eigenarten und Besonderheiten des anderen einzuprägen, sich zu merken, worüber man mit jemandem gesprochen hat. All das ist lockeres, beiläufiges Lernen, wird aber meist nicht als Lernen wahrgenommen.

 

Das Lernen macht stets dann Verdruss,
wenn man's nicht will, es aber muss.
Heinz Erhardt

 

Lernen, wie die meisten es zu kennen glauben, hat bewusst zu passieren. Die Fachwortverwalter/innen sprechen von absichtlichem oder intentionalem Lernen. Und dieses Lernen hat bitteschön nichts Angenehmes an sich, macht keine Freude. Diesem Lernen geht oftmals eine Problemstellung bzw. eine Aufgabe voraus, die es zu lösen gilt. Lernen in diesem Zusammenhang ist ein zweckorientiertes Aneignen von Fähigkeiten, aufgrund derer sich der lernende Mensch Vorteile erwartet, z. B. einen besseren Job, sobald ein Zeugnis vorgelegt wird, das bestätigt, dass etwas Bestimmtes gelernt wurde.

 

Nur der bange Blick in die Zukunft lässt also Lernen notwendig erscheinen?!

„Ich lerne, weil ...

... Lernen eben sein muss!"

 

Lernen ist eine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Leben ist Lernen, und wer nicht lernt, den straft das Leben, Punktum! Überdies erfährt ein Mensch, der nicht lernt, keine Bildung, ist also ungebildet, was, wie die Vorsilbe un- nahelegt, nichts Gutes sein kann! Übrigens auch ein weitverbreiteter Un-Glaube. Das Vorsilbchen un- verändert lediglich die Bedeutung eines Wortes, meist bis hin zum Gegenteil; Wörtern wie unermüdlich, unbürokratisch, unglaublich, unverzichtbar, unschuldig, unendlich etc. haftet an sich ja nichts Böses an.

 

Ritus Bildung

Es scheint, als ob Lernen im Laufe der Zeit leider und aber leider mehr und mehr auf seinen intentionalen (absichtlichen und bewussten) Teil reduziert worden wäre. Lernen wird meist nur als steiniger Weg wahrgenommen, dessen Begehen die guten Willigen und/oder besonders Talentierten in das gelobte Land der Bildung führt, woselbst die Lern-Vor-GängerInnen warten und beurteilen, ob und wie der Lernpilger oder die Lernpilgerin in den Orden der Gebildeten aufgenommen wird.

 

Dieses Lernen ist beinahe ein Initiationsritual und somit gelegentlich mit Schmerzen und Ängsten verbunden, wie so viele Aufnahmeriten. Wer die Prüfungen besteht, wird von den BildungspriesterInnen in den Geheimbund aufgenommen. Wer die Reifeprüfung besteht, gilt als reifes, erwachsenes Mitglied des Bundes der Gebildeten, als nützlicher Teil der Bildungs-Gemeinschaft, als Ritter des Wissens, der, nachdem er wieder und wieder Zeugnis ablegt über sein Wissen, gar den akademischen Ritterschlag erhält.

 

Hier ist die ungegenderte Form durchaus Absicht, war doch die sogenannte höhere Bildung für Frauen z. B. in Österreich eher die Ausnahme: Um 1970 betrug der Anteil an Frauen mit universitärer Ausbildung gerade eben 1 %, den Abschluss an einer höheren Schule hatten 5 %, an berufsbildenden Schulen waren es 9 %, die stattliche Anzahl von 73% hatte lediglich Pflichtschulabschluss und 13 % eine Ausbildung in der Lehre. Und von diesen 13 % wurden noch 68 % aller weiblichen Lehrlinge in lediglich drei Berufen ausgebildet: Friseuse, Damenschneiderin, Einzelhandelskaufmann = Verkäuferin und Sekretärin. Diese Zahlen haben sich wohl mittlerweile erfreulich verschoben, nach wie vor ist aber Raum nach oben (vgl. Statistische Analysen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden).

 

Hinter mir die ... Bildung

Kein Wunder also, dass viele nach einschlägigen Ausbildungs- und Lernerfahrungen dieser Art dem Bildungs- und Lernbegriff zumindest etwas skeptisch gegenüberstehen, sich längst in einem inneren Bildungsexil befinden und Weiterbildung, so sie denn gefordert wird, als unausgesprochen notwendiges Übel betrachten, das so rasch als möglich erledigt sein soll. Von Kindheit an wird in unseren Bildungsbreiten die Schulpflicht wahrgenommen, nicht aber das Recht auf sinnvolle, den individuellen Talenten angepasste Bildung.

 

Und? Alternativen?

Das Ziel von Bildung könnte durchaus sowohl sinnvoll als auch sinnlich sein, durch Lust am spielerischen Lernen, durch Freude am (Hinter)Fragen. So wie wir alle unsere ersten Lernerfahrungen durch Imitieren von Vorgaben unserer Umgebung und Erforschen gemacht haben, wird dieses Konzept des sich an der Lehr-Umgebung-Orientierens auch im weiteren Lern-Leben nicht aufgegeben. Über Vor-Bilder definieren sich die Bilder, als die wir die Welt wahrnehmen.

 

Natürlich braucht es bei dieser Wahrnehmungsübung im schulischen Bereich die Mitwirkung aller Beteiligten, der sogenannten Schulpartner: Lehrer/innen, Eltern und Schüler/innen, die im Idealfall nicht als lose Gruppe von notgedrungen kooperierenden Schiffbrüchigen, sondern als Team mit gemeinsamem Ziel agieren. Schlussendlich werden nur jene Kinder und Jugendlichen, die Lernen nicht als leidige Last erleben, lern-aufgeschlossene Erwachsene, Erwachsene, die ihre Fähigkeit zu lernen als Voraussetzung für ein reflektiertes Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt erkennen.

 

Über die Autorin/den Autor

Andre Blau war ua. als Kulturjournalist, Werbetexter, Sprecher, Schauspieler und Kabarettist tätig und arbeitet seit 1989 als freiberuflicher Schriftsteller, Liedermacher, Texter, Schulbuchautor für Persönlichkeitsbildung (MANZ-Verlag) sowie als Workshop-/Seminarleiter im theaterpädagogischen Bereich.

 

Andrea Motamedi verfügt über 30 Jahre pädagogische Praxiserfahrung: Deutsch, Persönlichkeitsbildung und soziale Kompetenz, Kunst und Kultur im BMHS-Bereich, ist Trainerin für kooperatives offenes Lernen; Workshop- und Seminarleiterin; leitet seit ca. 25 Jahren die integrative Jugendtheatergruppe CHAOS; ist im Projekt- und Kulturmanagement tätig, Schulbuchautorin (für Persönlichkeitsbildung und Deutsch im Manz-Verlag), Mitarbeiterin im ÖZEPS-Team (Österreichisches Zentrum für Persönlichkeitsbildung und soziales Lernen), Fachdidaktik Deutsch an der UNI Wien

Weiterführende Informationen:

 

In Kooperation mit Basis.Kultur.Wien konnte im Rahmen der 7. Wiener Integrationswoche das Pädagogische Theaterprojekt „Theater macht Mensch" umgesetzt werden. Die in diesem Rahmen umgesetzten Übungen ermöglichen den Teilnehmern den einfachen (schau)spielerischen Umgang mit Kommunikation, bei der vor allem den körpersprachlichen Elementen besondere Bedeutung zukommt. Unabhängig vom jeweiligen kulturellen Hintergrund können grundsätzliche Gemeinsamkeiten über das gemeinsame Tun und Erleben wahrgenommen werden.

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