Lesen als Schlüssel zur Welt

Was aber, wenn die Buchstaben keinen Sinn ergeben? Wenn die Sätze kein Ganzes bilden wollen? Wie sieht dann der Alltag aus?
Lesekompetenz in Österreich unter OECD-Durchschnitt
970.000 Menschen in Österreich verfügen nur über niedrige oder keine Lesekompetenz. Das besagt die PIAAC-Studie, deren Ergebnisse 2013 veröffentlicht wurden. PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) untersuchte die für Alltag und Beruf relevanten Schlüsselkompetenzen Lesen, Alltagsmathematik und Problemlösen im Kontext neuer Technologien. 24 Länder nahmen an der OECD-Studie teil, die Zielgruppe waren Erwachsene zwischen 16 und 65. Die Ergebnisse zeigten, dass die ÖsterreicherInnen bei der Alltagsmathematik über dem OECD-Durchschnitt lagen, bei der Problemlösungskompetenz im Durchschnitt und bei der Lesekompetenz darunter.
Analphabetismus ist gesellschaftlich bedingt
Dass jemand nicht (gut) lesen und schreiben kann, heißt keineswegs, dass er oder sie nicht intelligent ist. Die Gründe für mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse sind meist in einem größeren gesellschaftlichen Kontext zu suchen. Die PIAAC-Studie belegte vor allem einen starken Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz und dem Bildungshintergrund der Eltern, während auch andere Einflussfaktoren wie Geschlecht, Alter, Geburtsland, Erstsprache und Bildungsabschluss eine Rolle spielen.
Ein falsches Tabu
Betroffene Personen entwickeln ausgefeilte Strategien, um am Alltag in unserer hochverschriftlichten Gesellschaft teilzuhaben. Sie lassen sich von vertrauten Personen Informationen vorlesen oder beim Ausfüllen von Formularen helfen. Sie merken sich all das, was sich andere aufschreiben. Viele sind erwerbstätig und verbergen ihre geringen Lese- und Schreibkenntnisse vor dem Umfeld. Denn nach wie vor wird Analphabetismus häufig als Tabuthema behandelt. Umso größer die Scheu, nach Unterstützung zu fragen.
Kostenfreie Bildungsangebote
Dabei gibt es umfangreiche Unterstützungsangebote: In Österreich stehen in allen Bundesländern Alphabetisierungs- und Basisbildungskurse für Menschen nach Beendigung ihres schulischen Ausbildungswegs zur Verfügung. Seit den 1970er-Jahren wird das Thema hierzulande diskutiert, seit den 1990er-Jahren gibt es entsprechende Kursangebote für Erwachsene. 2012 wurde mit der Initiative Erwachsenenbildung ein Programm ins Leben gerufen, das kostenfreie Kurse und Bildungsabschlüsse für Jugendliche und Erwachsene ermöglicht.
Bibliotheken als Partner
Öffentliche Bibliotheken können hier wichtige Partner sein. Sie sind bereits stark im Bereich der Leseförderung und Literaturvermittlung für Kinder. Auch lesebegeisterten Erwachsenen wird ein breites Programm geboten. Jedoch gerade jene zu erreichen, die nicht lesen können, ist für Bibliotheken eine große Herausforderung.
Was BibliothekarInnen anbieten, zeigen Erfahrungsberichte und Best-Practice-Beispiele in der aktuellen Ausgabe der Büchereiperspektiven. Gemeinsam ist ihnen: Vernetzung und Kooperationen spielen eine wichtige Rolle. Und bei dem heiklen Thema ist Sensibilität gefragt. Das beginnt mit dem Darüber-Sprechen. So ist etwa der Begriff "Analphabet" nicht zur Ansprache der Zielgruppe geeignet.
Bildung ist zentral
Bildung ist ein zunehmend zentraler Faktor für ein chancenreiches Leben in unserer Gesellschaft - sogar für das Überleben, meinen die Demografen Wolfgang Lutz und Reiner Klingholz in ihrem Sachbuch "Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit" (Campus 2016). Lernen setzt Grundkompetenzen wie Lesen und Schreiben voraus. Öffentliche Bibliotheken können ihre Stärken einbringen, um Menschen mit Basisbildungsbedarf beim Lesen zu unterstützen - als Schlüssel zur Bildung, als Schlüssel zur Welt.
Büchereiperspektiven 1/2016:
A und O. Bibliotheken und Alphabetisierung
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