Vom Piktogramm zur inklusiven Raum-Orientierung
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Intuitive Orientierung anhand eines visuellen Leitsystems
Das Leitsystem aus Piktogrammen im BhW Niederösterreich in St. Pölten sollte ein ergänzendes Leitsystem zum bestehenden, sprachbasierten sein. Anlass dafür war mehr Orientierung und Übersicht für Besucher*innen und Kursteilnehmende, die aufgrund ihres breiten Alterspektrums und ihrer großen kulturellen Diversität mit dem bisherigen System nicht zur Gänze erreicht werden konnten. Die baulichen Gegebenheiten waren seit jeher schwierig zu überblicken: eine unklare Eingangssituation, verwinkelte Gänge und mehrere Stiegenhäuser. Die „Weg-Führung“ durch das Haus wurde während der Pandemie noch einmal komplizierter: „Einbahn-Regelungen“ zum gezielten Abstand-Halten, getrennte Bereiche für Angestellte, Besucher*innen und Kursteilnehmende. Die Kommunikationsbedarfe waren an vielen Stellen im Haus sehr hoch. Ein optisch auffälliges Leitsystem, das die Teilnehmenden von der Eingangstür bis in den Kursraum begleiten sollte, schien dringend notwendig. Das neue Orientierungsdesign verbindet nun Grafik, Innenarchitektur und wahrnehmungspsychologische Aspekte. Es bietet Kursteilnehmenden und Besucher*innen intuitive Orientierung über Bildzeichen anstelle von Text.
Piktogramme haben soziales Potenzial
Die Kommunikationsdesignerin Karoline Kirner analysierte im Rahmen ihrer Master-Thesis Anforderungen und Wirkziele (Kirner 2021). Im Rahmen des praktischen Projektteils entwickelte sie für das BhW Niederösterreich Piktogramme, die Menschen und Orte in einen Zusammenhang bringen und rhetorische Ziele verfolgen. In Piktogrammen und Bildzeichen sieht sie „eine Möglichkeit, Sprachbarrieren zu überwinden und Menschen, die schrift- und verbalsprachlich nur schwer zu erreichen sind, in einen Kommunikationsprozess einzubinden (z.B. Menschen aus einem anderen Sprachraum, Personen mit geringen Lesekompetenzen oder Menschen mit Einschränkungen in der Sprachfähigkeit, etc.). Somit steckt in Piktogrammen auch ein großes soziales Potenzial“, so Kommunikationsdesignerin Karoline Kirner in ihren Ausführungen zum Projektvorhaben im BhW Niederösterreich.
Dieses soziale Potenzial wird nun im Zuge der nach-pandemischen vor-Ort-Nutzung als Bildungshaus ausgeschöpft. Die Piktogramme sind so gestaltet, dass sie – ganz im Sinne der Urheberin – zum Verweilen einladen. Sie lassen das Haus zum Treffpunkt werden, an dem sich Menschen austauschen können. Dabei sind die Piktogramme mittlerweile selbst schon Gesprächsstoff: „Sie fördern die Interaktion und sorgen womöglich für ein Lächeln“, sagt Kirner, wie etwa das Bild des Schulungsteilnehmers, der in letzter Minute zum Kurs eilt und dabei die Zettel seiner Schulungsmappe verliert. Die Darstellung einer Frau, deren Kopf als stilisierte Frisur ebenso gelten kann wie als Kopftuch, steht stellvertretend für die Vielfalt der Teilnehmenden. Eine Frau im Rollstuhl wirkt in den Piktogrammen mobil, eigenmächtig und aktiv und konterkariert damit Bilder von hilflosen, an den Rollstuhl gefesselten Menschen (Kern 2023 - PDF).
Bildzeichen-Deutung als didaktisches Instrument in Basisbildungskursen
Die Piktogramme vermitteln die Dynamik und Vitalität, die die Lernveranstaltungen des BhW Niederösterreich erzeugen wollen. Darüber hinaus lässt sich das Konzept auch didaktisch nutzen: Über die Deutung von Bildzeichen erschließen wir uns die Orientierung in Räumen. Das wird in der Basisbildung gezielt genutzt. Das Beziehen der Piktogramme auf das sprachbasierte Leitsystem schafft einen Zugang zum Schrift- und Sprachsystem. Den nutzen beispielsweise die Teilnehmenden der Alphabetisierungskurse im Zuge von Exkursionen durch das Haus zur Lokalisierung von Räumen und zur Beschreibung ihrer Lage, in Form von Wort-Bild-Übungen als Versprachlichung der Piktogramme, in Arbeitsblättern mit Aufgaben zum Ergänzen der Fehlbuchstaben und so weiter. Kirners Ziel, Menschen, die schrift- und verbalsprachlich nur schwer zu erreichen sind, in einen Kommunikationsprozess einzubinden, scheint mit den Lernformaten der Basisbildung in erreichbare Nähe gerückt: Es ist bereits zum integralen Bestandteil im Kursalltag geworden.
Bildzeichen sorgen für Kommunikation und Atmosphäre
Positive Rückmeldungen gibt es von Besucher*innen und Gästen: Witzig sei die Figur, die die Zettel verliert; klar das Symbol für Lift. Die Fachleute für Barrierefreiheit loben die Auffälligkeit der Figuren. Vereinzelt sollen Kolleg*innen schon erschrocken sein, weil sie die lebensgroßen Figuren – flüchtig wahrgenommen – für lebendig hielten. Für wiederum andere boten die Piktogramme erstmalig Gelegenheit, sich mit nicht-sprachbasierter Orientierung auseinanderzusetzen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Schriftsprach-Kundige rückmeldeten, die Bedeutung nicht einordnen zu können, während Nicht-Schriftkundige dem Piktogramm sofort eine Deutung gaben.
Bildzeichen prägen auch die Lernkultur
Wahrnehmungspsychologisch gesehen ist Kirners Konzept jedenfalls aufgegangen: Die Auffälligkeit der Figuren entspricht den Wirkzielen in Funktionalität (Sichtbarkeit) und Stimmung (markierend). Die Frau mit der stilisierten Frisur und die Frau im Rollstuhl verleihen dem Ort einen einladenden und inklusiven Charakter. Die Figur, die in der Eile die Zettel verliert, trägt zu einer fröhlichen Stimmung bei.
Wird der Raum als Bildungsort verstanden, so sind die Piktogramme viel mehr als eine „tolle Idee“ oder eine „schöne Art, leere Wände sinnvoll zu gestalten“. Die Funktion der Räume und ihre Nutzer*innen prägen mit ihrer Art der Zusammenarbeit eine bestimmte Lernkultur: Das ist eine wertvolle Ressource bei der Entwicklung von didaktischen Settings, methodischen Szenarios und innovativen Bildungsveranstaltungen (Assinger 2019 - PDF).

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