"Basisbildungsbedarf ist gesellschaftliches, kein individuelles Versagen"
Welches Selbstbild haben Erwachsene mit Basisbildungsbedarf?
Monika Kastner: Hier gibt es, meine ich, keine generelle Antwort. Tendenziell würde ich meinen, dass Teilnehmende an Basisbildungskursen eher ein beschädigtes Selbstwertgefühl haben, weil sie vielfachen Belastungen ausgesetzt waren und sind (negative Schulerfahrungen, Arbeitslosigkeit, Stigmatisierungserfahrungen bzgl. Sonderschule u.Ä.). Viele KursteilnehmerInnen haben auch - bezogen auf ihre Lernbiografie - Erfahrungen des Scheiterns, von Herabwürdigung und Beschämung hinter sich - all dies wirkt sich auf das Selbstbild aus. Immer jedoch ist dies eine Frage der individuellen Persönlichkeit, die von biografischen Erfahrungen beeinflusst wurde und wird.
Viele Kursteilnehmende neigen eher zur Unterschätzung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Ich habe in meiner Forschungsarbeit auch beobachten können, dass KursteilnehmerInnen, die einer bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen, viel an Selbstwertstärkung und Selbstbewusstsein aus dieser Beschäftigung ziehen. Damit will ich sagen, dass das Selbstbild immer auch von lebensweltlichen und damit wiederum individuellen Faktoren bestimmt wird.
Generell wissen gerade Kursteilnehmende im mittleren und höheren Erwachsenenalter um ihre nicht hinreichend entwickelten Grundkompetenzen und nehmen auch wahr, dass sie eine gesellschaftliche Erwartung nicht optimal erfüllen können. Daraus speist sich ja vielfach auch die Motivation, überhaupt an einem Kurs teilzunehmen.
Bei stark belasteten Jugendlichen aus sozioökonomisch benachteiligten und damit bildungsbenachteiligten Elternhäusern ist dieses Wissen vordergründig nicht gegeben, weil entsprechende Erfahrungen teils noch nicht gemacht wurden bzw. auch positive Vorbilder fehl(t)en. Diese Einsicht muss erst als Teil der Motivation, sich überhaupt in einen nachholenden Bildungsprozess zu begeben, entwickelt werden.
Wie wirken sich gesellschaftliche Vorurteile hinsichtlich Personen mit Basisbildungsbedarf auf die Einzelnen selbst aus?
Generell möchte ich festhalten, dass das Phänomen nicht hinreichend entwickelter Grundkompetenzen im Sinne von Basisbildungsbedarf als eine Folge sozioökonomischer Benachteiligung bzw. gesellschaftlicher Ungleichheit und damit als gesellschaftliches Problem zu verstehen ist. Bildungschancen sind nun einmal stark herkunftsabhängig und dem allgemeinen Bildungssystem (Kindergarten und Pflichtschulbereich) gelingt es nicht gut genug, benachteiligende Effekte sozialer Herkunft abzuschwächen bzw. diese zu kompensieren. Es handelt sich also keinesfalls um ein individuelles Versagen.
Diese sozialwissenschaftliche Erkenntnis ist jedoch in der gesellschaftlichen Sichtweise nicht präsent bzw. wird systematisch darauf vergessen, verursachende Faktoren explizit mit zu kommunizieren. Mein Eindruck ist, dass der gesellschaftliche Blick auf Personen mit Basisbildungsbedarf ein skandalisierender, ein herablassend-arroganter und ein die Menschen in ihrer Gesamtheit abwertender ist.
Ich wünsche mir daher, dass Basisbildung als Teil des lebensbegleitenden Lernens wahrgenommen wird. Menschen mit Basisbildungsbedarf sind keine schulungsbedürftigen defizitären Wesen, sondern gesellschaftlich teilhabende und handlungsfähige Erwachsene. Eine normalisierende Haltung tut also Not.
Ich meine nämlich, dass der eben skizzierte gesellschaftliche Blick keine besonders günstige Grundlage für Lern- und Bildungsmotivation schaffen kann. Lernen sollte doch nicht als Behebung eines Defizits gesehen werden, sondern vielmehr an den Zielsetzungen des Wohlbefindens und - ganzheitlich-humanistisch verstanden - des Fortkommens im Sinne der Weiterentwicklung der Menschen und der Menschheit ausgerichtet sein.
Woran, glauben Sie, liegt es, dass im öffentlichen Diskurs darauf "vergessen" wird, dass Basisbildungsbedarf kein individuelles Versagen ist, sondern eigentlich ein gesellschaftliches Problem darstellt?
Dieses "Vergessen" verstehe ich so, dass ein Wahrnehmen des Phänomens "Basisbildungsbedarf" als gesellschaftliches Problem bedeuten müsste, sich als Gesellschaft einzugestehen, dass Personengruppen systematisch benachteiligt werden. Das spricht Macht- und Herrschaftsverhältnisse an und würde eine Gesellschaft ganz schön unter Druck bringen, weil man sich eingestehen müsste, dass man gesellschaftliche Ungleichheit nicht systematisch abbaut, sondern fortschreibt.
Es würde auch die Bildungspolitik und das Bildungssystem ganz schön unter Druck bringen, wenn man wirklich versuchen würde, alle Kinder bestmöglich zu bilden und aus der sozialen Herkunft resultierende Nachteile (z.B. aufgrund eines wenig(er) bildungsaffinen Elternhauses) möglichst frühzeitig präventiv zu behandeln. In den Kindergärten als erste Bildungseinrichtungen müssten entscheidende Weichen gestellt werden. Das alles bedeutet Reformbedarf in großen Dimensionen.
Wie können Lernende dabei unterstützt werden, ihre Potentiale und vorhandenen Kompetenzen, die sie non-formal oder informell erworben haben, zu erkennen, zu reflektieren und darzustellen?
Das ist eine besonders wichtige Frage, beinahe DIE Gretchenfrage schlechthin. Denn es ist davon auszugehen, dass Lernen leicht(er) gelingt, wenn auf vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten aufgebaut wird. Das ist eine didaktische Frage: wo genau ist anzusetzen und was genau will eine Person lernen, verbessern oder auch verlernen.
Hier ist die Erwachsenenbildung - und damit auch die Basisbildung - einer erwachsenengerechten Didaktik verpflichtet: das Prinzip des Anschlusslernens bezieht sich auf Vorwissen, Erfahrungen, Interessen und Lebenswelten von Teilnehmenden, von denen in der Bildungsarbeit auszugehen ist. AdressatInnen-, Zielgruppen- und TeilnehmerInnenorientierung sind in diesem Zusammenhang wichtige Stichwörter.
In der Basisbildungsarbeit wird eine ressourcenbewusste Sichtweise auf Teilnehmende eingenommen und das Prinzip der Lebensweltorientierung stärkt die Bezugnahme auf das Individuum in seinen Bezügen und Bedürfnissen und mit seinen Interessen als Ausgangspunkt für Lehrhandeln und Lernprozesse. Was es dazu braucht? Einen offenen, unverstellten und anerkennenden Blick auf mein Gegenüber. Und Zeit, tragfähige Beziehungen aufzubauen.
Der Sache zuträglich sind Lernfortschrittsdokumentationen und Reflexionsgespräche mit Lernberatungscharakter. Das Wahrnehmen des eigenen Lernstandes und der eigenen Lernfortschritte bedarf auch der Spiegelung von außen - durch andere erfahre/sehe ich nämlich, was ich schon (gut) kann oder noch nicht (so gut) kann. Daher kommt auch der Lerngruppe eine besondere Bedeutung zu.
Welchen Einfluss haben Umwelt und Umfeld der Personen auf ihr eigenes Selbstbild, auf die Inanspruchnahme von Basisbildungsangeboten sowie auf den Erfolg der Maßnahmen?
Die (kurze) Antwort auf diese Frage ist, dass ich jeweils einen großen Einfluss sehe. Welcher aber genau das ist, können wir nur im jeweiligen Einzelfall verstehen und (retrospektiv) rekonstruieren. Hierzu gibt es also (leider) keine generelle Antwort.
Wie kann das Umfeld unterstützend wirken? Sollen Angehörige zur Motivation eingebunden werden?
Das Umfeld kann natürlich unterstützend wirken. Unterstützende Angehörige/Bekannte/KollegInnen können einen Beitrag zur Teilnahme- bzw. zur Lernmotivation leisten. Das lässt sich auch tagtäglich in Kursen beobachten. Kursteilnehmende wurden teilweise von Angehörigen, Bekannten und/oder KollegInnen auf das Basisbildungsangebot aufmerksam gemacht und zur Teilnahme bewegt; teilweise gibt es Personen im nahen Umfeld, die beim Lernen unterstützen; teilweise konnte ich sehen, dass im Arbeitsumfeld Personen, die mit ihrem Basisbildungsbedarf offen umgehen, Hilfe durch ArbeitskollegInnen erfahren.
Ein unterstützendes Umfeld lässt sich aber nur bedingt steuern und folgt einer gewissen Eigenlogik bzw. ist auch geprägt von "günstigen" Zufällen oder "günstigen" Gelegenheiten oder aber "besonderen" Personen, die wirksam werden (können).
Assoz.Prof.in Dr.in Monika Kastner
Monika Kastner lehrt und forscht seit 2004 am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt; die Habilitation im Fach Erziehungswissenschaft erfolgte 2010. Sie absolvierte die Grundausbildung in TZI - Themenzentrierte Interaktion und ist Seminarleiterin in der Erwachsenenbildung. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungsbenachteiligte Erwachsene (u.a. Lehr-/Lernforschung, Zielgruppen-/TeilnehmerInnenforschung); Evaluationsforschung/pädagogische Qualität im Kontext lebensbegleitender Bildung; Analyse und Gestaltung des Zusammenhangs von Arbeit - Bildung - Lebenswelt.
Serie: Basisbildung und Öffentlichkeit
Am Rande der Gesellschaft stehend: so werden Menschen dargestellt von denen wir meinen, dass sie Basisbildung brauchen. Wenn wir über Basisbildungsbedarf diskutieren, stehen uns diese Stigmatisierung und die damit einhergehenden negativen Zuschreibungen oft im Weg. Mit dem Themenschwerpunkt „Basisbildung und Öffentlichkeit" auf erwachsenenbildung.at will die Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Bildung im Herbst 2017 den Anstoß zur Auseinandersetzung mit diesem Thema geben. In einer Serie von Beiträgen kommen ExpertInnen in Interviews, wEBtalks und Artikeln zu Wort. Alle bisher zur Serie #baböff erschienenen Beiträge sowie Ressourcen zum Thema finden Sie hier.
Die Serie ist Teil eines Projekts des BMB mit Förderung aus Mitteln der Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA).
Was verstehen Sie unter Basisbildung? Beteiligen Sie sich an der Diskussion über eine Definition von Basisbildung! Zur Online-Pinnwand
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