Digitalität: das Ende des Lesens?

Digitalität als gemeinsame Umgebung
Was ist Digitalität und worin besteht der Unterschied zur Digitalisierung? Das einleitende Interview mit Felix Stalder geht dieser Frage auf den Grund: Digitalität ist demnach das, was die Digitalisierung mit ihrer Infrastruktur hervorbringt - nämlich unsere aktuelle Umgebungsbedingung und ein neuer kultureller Raum. Stalder sieht in der Kultur der Digitalität eine enorme Veränderung und Vervielfältigung unserer Möglichkeiten. Eng damit verbunden ist die Virtualität, die mit einem veränderten Verständnis von Räumen und Orten einhergeht.
Was ändert sich mit der Digitalität?
Das Internet als Lehr- und Lern-Raum mit seinen eigenen Charakteristika bringt neue Formen des Denkens und neue Formen des Lernens und Lehrens hervor. So geht die traditionelle Buchkultur mit Linearität und logischen Kausalzusammenhängen einher, während Digitalität als vorherrschende Praxis eher eine Vorstellung von Nicht-Linearität, Gleichzeitigkeit und Interdependenz fördert.
Auffallend an der Kultur der Digitalität ist der einfache Weg zur aktiven Beteiligung. Die Schwellen für Engagement, Ausdruck und Sichtbarkeit liegen niedrig. Zugleich erfolgt die Beteiligung in einem Netz, das endlos wirkt, und in dem sich Gemeinschaften ebenso leicht auflösen wie bilden. Hier herrschen Konkurrenz um Aufmerksamkeit und ein gewisser Druck zur aktiven Online-Präsenz. Vielerorts wirken auch die Algorithmen der Großanbieter, die sich nur kritischen UserInnen erschließen. Von den Möglichkeiten der großen Internetkonzerne geht eine Bedrohung für demokratische Prozesse aus, die eine aufklärerische Bildungsarbeit dringend erforderlich macht.
Mediale Paradigmen und palliative Didaktik
Axel Krommer führt in seinem Beitrag die pädagogischen Konsequenzen aus. Ihm zufolge sind Medien keine reinen Werkzeuge, sondern haben Auswirkungen auf die Praxis und den Inhalt der jeweiligen Botschaft – beispielsweise beginnen Telefonate am Smartphone anders als am Festnetztelefon. Die Konsequenzen sind massiv und verlangen im Bildungswesen nicht (nur) nach instrumentellem Knowhow, sondern nach einem Paradigmenwechsel.
Statt herkömmlichen Frontalunterricht mit Unterstützung von digitaler Technik fortzusetzen (Krommer nennt das „palliative Didaktik"), sollen Lehrende die vorhandenen Chancen auf offene kollaborative Lernformen nutzen. Verweigert sich das Bildungswesen dem Paradigmenwechsel, könne es daran zugrunde gehen. Krommer spricht hier von der Institution Schule, aber auch in der Erwachsenenbildung gilt es, die Chancen der neuen Technologien zu nutzen.
Abwehr begleitet jeden Leitmedienwandel
Menschen haben immer nach dem jeweils vorherrschenden Paradigma gelebt und gelernt. Das war einst das Paradigma der mündlichen Überlieferung, später der privilegierte Zugang zu handschriftlichen Kopien, seit dem Buchdruck die lineare Verbreitung definierten Wissens und in der Digitalität eine neue Informationsflut, gemeinschaftliche Bewertungspraxis und algorithmische Beeinflussung.
"Wenn Medien als Paradigmen begriffen werden, lassen sich auch die zum Teil irrationalen Beharrungstendenzen erklären, die für krisenhafte Phasen des Übergangs typisch sind", so Krommer. Auch in den Geisteswissenschaften werden bewährte Paradigmen nicht gerne aufgegeben, und eine strukturkonservative Abwehrhaltung sei gerade in textlastigen Handlungsfeldern (wie dem Bildungsbereich) vorhersehbar.
Digitalität ist nicht das Ende des Lesens
Digitalität verändert Gewohnheiten des Denkens und Lernens und natürlich auch des Lesens. Letzteres ist Gegenstand des Beitrags von Gerhard Lauer. Er konstatiert seit Durchsetzung des Internet eine drastisch gestiegene Anzahl an Verlagspublikationen. Täglich über 300 Neuerscheinungen sind das in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Der Aufstieg des Internet sei also nicht mit einem Untergang der Lesekultur verbunden, was der Autor anhand einer Reihe von empirischen Belegen untermauert. Mit Smartphones und eReadern sei digitales Lesen "in der Mitte der Gesellschaft angekommen", so Lauer, und ein Verlust an Lesekultur sei nicht zu befürchten.
Über den Sammelband
Der Sammelband „Was ist Digitalität?" ist in der Metzler-Reihe "Digitalitätsforschung / Digitality Research" erschienen. Pädagogische Konsequenzen sind in den Beiträgen vor allem für den Bereich der Schulbildung ausformuliert. Für ErwachsenenbildnerInnen bietet der Sammelband eine flüssig lesbare Kulturdiagnose und ein wichtiges Stück Orientierung im aktuellen Transformationsprozess.
Hauck-Thum, Uta; Noller, Jörg [Hg.] (2021): Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven. Berlin: Verlag J.B. Metzler/Springer Nature. ISBN: 978-3-662-62988-8, EUR 61,67 (Softcover); EUR 46,99 (E-Book).

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