Erwachsenenbildung und Zeit: Gedanken zu einem komplexen Begriffsfeld

22.02.2021, Text: Michael Görtler, Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften, OTH Regensburg, Redaktion: Lucia Paar, Redaktion/CONEDU
Die Vielfalt der Zeit(en) in der Erwachsenenbildung lädt zum Nachdenken ein, um den Diskurs über Zeit zwischen Theorie und Praxis weiterzuentwickeln.
Zeit ist ein konkreter und zugleich abstrakter Begriff.
Foto: Pixabay Lizenz, Michael Jarmoluk, https://pixabay.com/
Die aktuelle Ausgabe des Magazin erwachsenenbildung.at hat die Zeit bzw. die Beziehung von Erwachsenenbildung und Zeit zum Thema. Beim Lesen der darin enthaltenen Beiträge wird klar, dass Zeit ein vielfältiger Begriff ist. Aus dem Zusammenspiel mit der Erwachsenenbildung in Theorie und Praxis entsteht ein komplexes Begriffsfeld, in welchem die Gegenstandsbestimmung angesichts der Vielfalt an Zeit(en) zur analytischen Herausforderung wird, wie die folgenden (Nach-)Gedanken zu diesem Schwerpunkt verdeutlichen sollen.

Zeit als zugleich konkreter und abstrakter Begriff...

Zeit ist ein konkreter und zugleich abstrakter Begriff - das spiegelt sich in den unzähligen Publikationen aus dem Bereich der (Zeit-)Philosophie und (Zeit-)Soziologie, aber auch den Zeitratgebern für die berufliche Praxis, z.B. zum Zeitmanagement, wider. Wenngleich die Menschen keinen Zeitsinn besitzen, sind sie doch dazu fähig, die Zeit wahrzunehmen und zu erfahren, darüber ihr Denken und Handeln zeitlich zu strukturieren usw. Und obwohl Zeit allen Menschen ein Begriff ist und neben dem Raum als fundamentale Kategorie der menschlichen Wahrnehmung gilt, bleibt sie ein Rätsel, wie es Augustinus schon vor vielen Jahrhunderten formulierte. Die Zeit - so macht es den Anschein - wird in der modernen Gesellschaft als Selbstverständlichkeit angesehen und dabei nicht weiter beachtet. Einerseits hat Zeit für den Menschen im Alltag eine bestimmte Bedeutung, sowohl für das Individuum als auch die Gesellschaft, etwa in Form der Uhrzeit oder der Zeitkultur, andererseits ist Zeit bei näherer Betrachtung unbestimmt, wie die Zeitbegriffe und (Zeit-)Theorien in unterschiedlichen Disziplinen zeigen. Ein allgemein gültiges Verständnis von Zeit fehlt offenkundig und so darf es nicht verwundern, dass auch das Projekt der Entwicklung einer Zeittheorie in der Erwachsenenbildung noch nicht abgeschlossen ist, wie ein Blick in aktuelle Literatur zeigt.

... (auch) in Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung

Die Herausgeberinnen der Ausgabe Elke Gruber und Christine Zeuner zeigen im Editoral auf, dass die Zeit in der Erwachsenenbildung in unterschiedlicher Gestalt (z.B. Dimension, Ebene, Kategorie, Phänomen) und in unterschiedlichen Kontexten (z.B. Didaktik, Methodik, Lernen, organisationales Setting) zur Geltung kommen kann. Aus der Beziehung von Zeit und Erwachsenenbildung in Theorie und Praxis entfaltet sich nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der einzelnen Beiträge ein komplexes Begriffsfeld, in dem explizit genannte und implizit mitschwingende, unterschiedliche, zum Teil miteinander verbundene, zum Teil voneinander losgelöste Aspekte von Zeit diskutiert werden. Daraus entsteht eine analytische Herausforderung, denn die Zeit als gemeinsamer Bezugspunkt der Erwachsenenbildung scheint umso komplexer zu werden, je genauer man sich damit beschäftigt. Und eine deutlich sichtbare Konsequenz besteht darin, dass innerhalb des Theorie- und Praxisdiskurses in unterschiedlicher Manier von Zeit(en) gesprochen wird (z.B. im Rückgriff auf den pädagogischen, philosophischen, soziologischen Zeitbegriff, mitunter auch in Kombination). Aus diesem Grund ist es beim Austausch zwischen Theorie und Praxis wichtig, sich auf einen gemeinsamen Bezugspunkt zu verständigen. Trotz der Vielfalt an Lesarten ist auch eine Verengung des Zeitbegriffs erkennbar, beispielsweise in der Form, dass der Umgang mit Zeit im beruflichen Kontext vor allem als ökonomischer Faktor begriffen wird, etwa im Sinne des Zeitmanagements, während alternative Konzepte, die Zeit als individuellen, gesellschaftlichen und politischen Faktor verstehen, wie jenes der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, nur langsam ins öffentliche Bewusstsein dringen. Folglich ist es keine Überraschung, dass die Auseinandersetzung mit der Beziehung von Erwachsenenbildung und Zeit nicht nur die Vielfalt der Zeit(en) ans Licht bringt, sondern auch neue Fragen aufwirft, etwa nach der Zeitordnung der Gesellschaft als Gesamtsystem und ihrer Teilsysteme, wie dem Weiterbildungsbereich.

Bezugspunkte im Diskurs zwischen Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung

Aus den genannten Gründen stellt auch die Einordnung der einzelnen Beiträge der aktuellen Magazin-Ausgabe eine analytischen Herausforderung dar, die sich angesichts der Vielfalt der Zeit(en) und der gebotenen Kürze dieser (Nach-)Gedanken nicht systematisch bewältigen lässt. Daher sollen an dieser Stelle - und ohne Anspruch auf Vollständigkeit - fünf exemplarische Bezugspunkte, die sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Erwachsenenbildung sichtbar gemacht werden können, skizziert werden. Erstens kann Zeit als Ressource fungieren in dem Sinne, dass Bildungsprozesse Zeit brauchen, um gelingen zu können, wie etwa in Gestalt von Zeiträumen. Zweitens kann Zeit als Kategorie fungieren in dem Sinne, dass in Bildungsprozessen eine zeitliche Einordnung des Denkens, Handelns, Erlebens usw. über die Zeitwahrnehmung geschieht, wie etwa als Instrument der Erschließung von Selbst und Welt. Drittens kann Zeit als Perspektive fungieren in dem Sinne, dass Bildungsprozesse einen zeitlichen Orientierungspunkt brauchen, der sich im Verlauf des Lebens verändern kann, wie etwa der Zeithorizont. Viertens kann Zeit als Verhältnis fungieren in dem Sinne, dass in Bildungsprozessen Ungleichheiten hinsichtlich der Verfügung über die eigene Zeit, aber auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinsichtlich der Verfügung über die Zeit anderer sichtbar werden, wie etwa zeitliche Freiheiten, Abhängigkeiten oder Zwänge. Fünftens kann Zeit als Struktur fungieren in dem Sinne, dass gesellschaftliche, institutionelle oder organisationale Zeiten Bildungsprozesse rahmen, aber auch in dem Sinne, dass sich Menschen mittels Zeit ihr Leben und Lernen selbst organisieren.

Fazit

Die aktuelle Ausgabe und die darin enthaltenen Beiträge laden zum Nachdenken über das komplexe Begriffsfeld von Erwachsenenbildung und Zeit ein, sie zeigen aber auch auf, welche analytischen Herausforderungen angesichts der Vielfalt an Zeit(en) entstehen. Antworten auf die offenen Fragen, beispielsweise über gemeinsame Bezugspunkte von Zeit in Theorie und Praxis, können den Diskurs über Zeit in der Erwachsenenbildung weiterentwickeln.

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