Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben

05.08.2013, Text: Adrian Zagler, Online-Redaktion
Philosoph K.P. Liessmann referierte an der Grazer Universität über Didaktik und das Schreiben als Methode, um Wissen zu produzieren.
Konrad Paul Liessmann
Schreiben generiert Wissen, so Liessmann.
Foto: www.mediendienst.com
Schreiben ist eine der Kulturtechniken, aber Schreiben ist auch mehr, als Buchstaben zu Papier zu bringen. Für den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann – bekannt durch seine „Theorie der Unbildung“ – ist es eine Methode, Wissen zu produzieren. Vor allem dann, wenn man sich auf das Abenteuer einlässt, einfach mal „drauf los“ zu schreiben, ohne das Ziel bereits zu kennen. Bei einem Vortrag an der Universität Graz im vergangenen Juni mit dem Titel „Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“ plädierte Liessmann für mehr „richtiges“ Schreiben im Unterricht und weniger blinde Reproduktion von Informationen.

 

Wissen durch Schreiben

Zwei Thesen stellte Liessmann an den Beginn seines Vortrags. Erstens: „Jeder Text, der geschrieben werden will, kann nur geschrieben werden, indem er in eine lineare Form gebracht wird“. Und zweitens: „Meist ist es aber so, dass man die Ordnung der Gedanken erst dann wirklich kennt, wenn man sie hingeschrieben hat“. Ein Paradoxon, das die Probleme beschreibt, die – vor allem, aber nicht nur – jene Menschen haben, die wissenschaftlich schreiben müssen. Die Lösung dieses Problems liegt für Liessmann in der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“. Erst beim Schreiben selbst würden sich die Gedanken formieren, sich Zusammenhänge erschließen und vorher ungeahnte Erkenntnisse einstellen. So generiere sich Wissen durch das Schreiben.

 

Die große Leere

Liessmann versteht Schreiben nicht als plan- und kontrollierbaren Akt, sondern als Prozess. Am Beginn dieses Prozesses steht „die große Leere“ des weißen Blattes Papier, die mit dem ersten Satz gefüllt sein will. Dieser erste Satz hat das Potenzial, alles darauf Folgende zu bestimmen – einfach schon dadurch, ob der zweiten Satz mit einem „und“, „oder“, „aber“, „jedoch“ oder einer anderen logisch-syntaktischen Verbindung fortgeführt werden kann. „Der erste Satz zeitigt den zweiten Satz“, so Liessmann. Gleichzeitig kann die Eigentümlichkeit des Schreibflusses dazu führen, dass am Ende etwas ganz anderes herauskommt als am Anfang gedacht. Wenn man sich vom eigenen Schreiben führen und treiben lässt, ist das Ziel ungewiss, die Möglichkeiten sind aber gleichzeitig auch unbegrenzt.

 

Denkanstöße für PädagogInnen und AndragogInnen

Zu Beginn seines Vortrages stellte Liessmann klar, dass er kein Didaktiker sondern Philosoph ist, und daher auch nicht als Didaktik-Experte sprechen kann. Nichtsdestotrotz präsentierte er einige Denkanstöße für PädagogInnen und AndragogInnen. Schreiben im Unterricht solle nicht heißen: 300 Wörter zu einem bestimmten Thema. Bei solchen Aufgaben verbringe man die Hälfte der Zeit damit, zu zählen, und würde ständig den Schreibfluss unterbrechen – die Eigendynamik des Schreibens könne gar nicht erst aufkommen.

 

Kritik an Schreibkompetenz

Auch der Kompetenzorientierung erteilt Liessmann eine Abfuhr: Schreibkompetenz hieße meist, eine Liste von detaillierten Vorgaben abzuarbeiten. Diese Einschränkung durch konkrete Bestimmungen laufe aber der Kreativität zuwider und untergrabe die Möglichkeit, über das Schreiben selbst Erkenntnisse zu produzieren. Als Negativ-Beispiel nannte er Schulbuchangaben à la „Verfassen Sie aus der Sicht des Nebencharakters eine Gegendarstellung und bringen Sie dabei Argumente aus dem Text, aber auch eigene Gedanken ein.“ Die didaktische Überdefiniertheit sei gut gemeint aber oft schädlich, da sie in der Aufgabenstellung schon vorwegnehme, was eigentlich erst durch den Schreibprozess produziert werden sollte. Zumindest ab und zu solle es totale Freiheit geben, jenseits von Stoffsammlungen und Pro-und-Contra, „vor allem in Kontexten, wo es um selbstreflektierendes Schreiben geht“.

 

Schreibende mit Texten konfrontieren

Dieses Experiment birgt natürlich Risiken: Nicht immer können die Schreibenden ihre Gedanken im Schreibprozess ordnen. Manchmal entlädt sich auch einfach das Chaos im Kopf auf das Papier. So oder so, glaubt Liessmann, müssten die Schreibenden später mit Selbstgeschriebenem konfrontiert werden, damit sie die Ordnung ihrer Gedanken entdecken – eine Ordnung, die oft erst durch das Schreiben entsteht. Und damit sie die Notwendigkeit erkennen, einmal Geschriebenes zu redigieren, denn sehr oft mache man die Erfahrung, dass das, was man eigentlich sagen wollte und was man klar vor sich hatte, gar nicht dastehe. Eben deswegen weil das Schreiben nur bedingt planbar sei, auch wenn manche didaktische Konzepte dies anders sehen mögen.

 

Ideenarmut als Motivation

Liessmann fordert also dazu auf, zu schreiben obwohl(!) Ideen oder Struktur fehlen: „Der eigentliche Ansporn für eine Verfertigung von Gedanken beim Schreiben wäre nicht Ideenreichtum sondern Ideenarmut“. Der Prozess wird zur Mutter der Idee, und das eigentliche Organ des Schreibens ist nicht mehr der Kopf, sondern die Hand. Liessmann untermauert dies mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, denen zufolge die Verbindung zwischen Handmotorik und Hirn viel enger ist als gedacht. Anders gesagt: Wir schreiben und denken anders, wenn wir händisch schreiben. Und manchmal können wir uns beim Schreiben sogar selbst überraschen.

 

Konrad Paul Liessmann (geb. 1953 in Villach) ist Universitätsprofessor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. 2006 erhielt er die Auszeichung „Wissenschaftler des Jahres“. Im selben Jahr erschien sein viel beachtetes Buch „Theorie der Unbildung: die Irrtümer der Wissensgesellschaft“. Er schreibt regelmäßig für Der Standard, Die Presse und profil.

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