Was kann Erwachsenenbildung gegen Armut tun und wo liegen die Grenzen?

25.11.2024, Text: Lucia Paar, Redaktion/CONEDU
Gute Erwachsenenbildung brauche Kopf, Hand, Fuß und Herz, und müsse insgesamt das Leben in seiner Fülle im Blick haben. Martin Schenk, Mitbegründer der Armutskonferenz und Sozialexperte, im Gespräch über Bildung und Armut.
Martin Schenk
Martin Schenk ist Mitbegründer der Armutskonferenz und Sozialexperte der Diakonie.
Foto: Alle Rechte vorbehalten, Diakonie/Luiza Puiu, Hintergrund erweitert (CONEDU), https://www.skyfish.com

Insgesamt sind in Österreich 17,7% der Menschen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das sind 1,6 Millionen Menschen. Darüber hinaus ist die Zahl der Menschen in sozial deprivierten und ausgrenzenden Armutslagen im Vergleich zu 2022 um mehr als 60% von 201.000 auf 336.000 gestiegen. Gemessen an der Bevölkerung macht das einen Zuwachs von 2,3 auf 3,7%. So hoch lag der Wert in den vergangenen fünf Jahren noch nie. Als mögliche Maßnahme gegen Armut ist viel im Gespräch – auch Bildung. Denn Bildung reduziere das Armutsgefährdungsrisiko, so die Statistik Austria (PDF). Aber was kann Bildung, insbesondere Erwachsenenbildung, konkret tun, um Armut entgegenzuwirken? Und wo liegen ihre Grenzen? Das haben wir Martin Schenk gefragt. Er ist Mitbegründer der Armutskonferenz, Sozialexperte der Diakonie und Psychologe.

Lucia Paar: Armut und Bildung haben eines gemeinsam: Sie werden vererbt. Gibt es noch andere Gemeinsamkeiten?

Martin Schenk: Die schiefe Ebene zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen gibt es in allen Ländern. Hierzulande ist sie aber besonders ausgeprägt. Ein weiterer Zusammenhang besteht in Demokratie und Mitbestimmung. Das ökonomisch schwächste Drittel und das mit der geringsten formalen Bildung ist im Parlament mit Abgeordneten nicht vertreten. Und: Je mehr sozioökonomische Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie auch an Politik teilhat. Dazu braucht es auch formale Bildung. Soziale Ungleichheit schließt also aus. Für eine aktive Beteiligung am politischen Geschehen sind Ressourcen notwendig. Neben verfügbarer Zeit geht es dabei um Wissen und Information. Personen, die ihre materielle Absicherung für die Zukunft als schlecht einschätzen, partizipieren sehr viel seltener als solche, die sich als materiell gut abgesichert empfinden. 

In Ihrem Buch und verschiedenen Vorträgen betonen Sie, dass Armut sowohl einen Mangel an Brot als auch einen Mangel an Rosen bedeutet. Armut bedeutet also einerseits etwa, sich kein Essen leisten und die Miete nicht bezahlen zu können. Auf der anderen Seite sind Menschen auch dann arm, wenn ihre Freiheit und ihre Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt sind – ihnen Teilhabe, Selbstwirksamkeit und Anerkennung verwehrt bleiben. Wie kann Erwachsenenbildung dazu beitragen, dass es genug Brot und Rosen für alle gibt?

Zum einen kann sie in ihren Angeboten Brot und Rosen anbieten. Das heißt Kopf, Hand, Fuß und Herz sind gefragt. Der Kopf mit Denken oder Sprachen lernen, die Hand mit praktischem Tun und Werken, der Fuß mit Bewegung und Begehungen und nicht zuletzt das Herz, das Gemeinschaft erlebt und an Begegnungen wächst. All das braucht es fürs gute Lernen. Das gilt auch für eine gute Erwachsenenbildung: Kopf, Hand, Fuß und Herz. Sie soll das Leben in seiner Fülle im Blick haben. Leben ist mehr als Überleben. Das erfordert auch die sozialen, ökonomischen und strukturellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.

Chancenungleichheit und Armut hängen oft zusammen. Nun hat Erwachsenenbildung häufig den Anspruch, Chancengleichheit zu fördern – sei es, wenn es um das Lesen und Schreiben lernen mit Erwachsenen geht oder bei Projekten für Empowerment und Chancengleichheit von Frauen. Hilfreich oder vergebene Liebesmühe? Was sind Ihre Erfahrungen? 

Das ist ein ganz wesentlicher Beitrag, der nicht zu unterschätzen ist: Basisbildung, Alphabetisierung, Deutschkurse oder Stärkung im Alltag. Achten muss die Erwachsenenbildung darauf, wirtschaftliches Handeln in soziale, politische und ökologische Verhältnisse einzubetten. Zusammenhänge sehen, Kontext herstellen - das wäre beispielsweise eine gute Finanzbildung. Eine schlechte aber ist es, soziale und ökonomische Risken zu individualisieren, hier noch dazu auf dem Rücken einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen. Altersarmut von Frauen ist nicht auf deren mangelndes Finanzwissen zurückzuführen, wie manche dieser Kurse behaupten. Hier werden nicht nur Zusammenhänge falsch dargestellt, sondern auch die tatsächlichen Ursachen von Frauenarmut verschwiegen. Diese Spielart von Finanzbildung ist verhaltensversessen und verhältnisvergessen. Heraus kommt eine Ideologie „Jeder kann es schaffen, wenn er nur Finanzbildung macht“, nach dem Motto „wer arm ist, ist selber schuld“. 

Inwieweit sehen Sie in der Erwachsenenbildung die Möglichkeit, für das Thema Armut zu sensibilisieren und das Thema (be)greifbar zu machen? Kennen Sie gute Beispiele?

Oft gerät außer Blick, dass Personen mit der Bezeichnung „bildungsfern“ als Menschen ohne Bildung abgestempelt werden und deren lebensweltlicher Wissensschatz unberücksichtigt bleibt. So wird formales Wissen mit Bildung verwechselt und finanziell ärmere Menschen als „ungebildet“ gebrandmarkt. Dagegen gibt es wunderbare Lehrgänge zu Erfahrungsexpert*innen oder Peers. In multiprofessionellen Teams dürfen Peers und Betroffene nicht fehlen. Das sind Menschen, die beispielsweise wissen, was Krankheit heißt, und aus der eigenen Erfahrung als Genesungsbegleiter*innen mithelfen können. Dafür sollte es österreichweit eine für die Betroffenen kostenlose Ausbildung geben und Peers einen selbstverständlichen Platz in der Gesundheitsversorgung bekommen. Weitere gute Beispiele sind legislatives Theater wie InterACT, das Sozialhilfebeziehern oder benachteiligten Jugendlichen eine reflexive Bühne gibt, oder Projekte zwischen Kultur- und Sozialeinrichtungen bei Hunger auf Kunst und Kultur, oder stille Begleiter*innen auf Ämter über die Initiative „Mitgehn“. 

(Erwachsenen)Bildung wird im öffentlichen Diskurs oft auch als alleinige Rettung bei gesellschaftlichen Herausforderungen gesehen (Bildung gegen „Corona-Leugner*innen“, Bildung zum Erhalt der Demokratie). Doch bei alldem, was Bildung bewirken kann, hat sie auch Grenzen. Wo liegen diese im Kontext von Armut? 

Finnland hat Spitzenwerte beim Schulerfolg sozial benachteiligter Kinder, aber trotzdem eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die beste Schule nützt nichts, wenn die Übergänge zum Arbeitsmarkt mangelhaft sind oder Jobs fehlen. Bildung führt nicht automatisch zu sozialem Aufstieg. Wo Wissen zum ausschlaggebenden Faktor im Wettbewerb wird, entsteht sogar das Paradoxon, dass sich soziale Ungleichheiten verschärfen. Formale Bildung als individuelles Hochrüstungstool im gegenseitigen Wettkampf führt zu einem immer besser gebildeten Prekariat. Und: es geht immer auch darum, ob Bildung am Arbeitsmarkt „verwertbar“ ist. Tausende müssen in Österreich weit unter ihrer Qualifikation arbeiten. Bildung kann viel, aber nicht alles leisten.

Martin Schenk ist Mitbegründer der Armutskonferenz, Sozialexperte der Diakonie, Psychologe, Sein aktuelles Buch „Brot und Rosen. Über Armut“, Edition Konturen.

Weitere Informationen:
Quelle: EPALE E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

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