Erwachsenenbildung und Armut: Möglichkeiten und Grenzen

07.01.2025, Text: Antonia Unterholzer, Redaktion/CONEDU
In der Bildung gilt: Wer hat, dem wird gegeben. Dennoch kann sie Teilhabe fördern und Chancen eröffnen. Wie Bildung wirkt, und was sie nicht kann.
Spielfiguren, die unterschiedlich aussehen
Menschen mit bereits höheren formalen Abschlüssen nehmen auch häufiger an Weiterbildungsangeboten teil.
Foto: Pixabay Lizenz, Gaby Stein, https://pixabay.com

Moderne Gesellschaften legen einen hohen Wert auf Bildung: Sie soll soziale Ungleichheit abbauen, gesellschaftliche und politische Teilhabe fördern oder berufliche Perspektiven sichern. Bildung gilt häufig als nahezu universelles Mittel, das viele gesellschaftliche Probleme lösen könne – vorausgesetzt, alle hätten Zugang zu ausreichender Weiterbildung. Allerdings zeigt die Forschung zu Armut und Bildung, dass (Erwachsenen-)Bildung nicht zu weniger Armut führt und selbst Ungleichheiten reproduziert. Sie bewegt sich selbst innerhalb bestimmter struktureller Grenzen und die Angebote erreichen oftmals nicht die, die sie brauchen. Gleichzeitig kann (Erwachsenen-)Bildung dennoch wirken, indem sie soziale Teilhabe stärkt und neue Perspektiven eröffnet. Wo also liegen die Chancen und Grenzen von Erwachsenenbildung, wenn es darum geht, Armut und sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken? Wie komplex die Zusammenhänge zwischen Bildung und Armut sind, zeigen aktuelle Studien, Publikationen und Interviews, die wir zusammengetragen haben.

Wer hat, dem wird gegeben: Doppelte Selektivität

Nicht alle Bildungsangebote erreichen diejenigen, die sie am dringendsten benötigen. Die Bildungswissenschaften sprechen in diesem Zusammenhang seit jeher von der „doppelten Selektivität“: Menschen mit höheren formalen Abschlüssen nehmen häufiger an Weiterbildungsangeboten teil. So erreicht Weiterbildung oft nur bestimmte Teile der Bevölkerung – vor allem jene, die bereits sozioökonomisch bessergestellt sind. Aktuelle Daten des Adult Education Survey (PDF) bestätigen diesen Trend: Am häufigsten nutzen erwerbstätige Personen und Menschen mit Hochschulabschlüssen die Angebote der Erwachsenenbildung. 

Im Kontext der doppelten Selektivität stehen nicht nur strukturelle Grenzen im Vordergrund. Die Bildungswissenschaftler*innen Rosa Bracker und Peter Faulstich betonen, dass es vielmehr eine komplexe Verbindung von subjektiven (Nicht-)Teilnahmegründen (z.B. Einstellung zu Bildung, Lernerfahrungen), sozialer Herkunft und strukturellen Bedingungen (z.B. fehlende finanzielle Mittel, mangelnde Barrierefreiheit, Care-Arbeit) gibt, die Weiterbildung ermöglichen oder verhindern. Es geht also um individuelle Entscheidungsspielräume und soziale und ökonomische Rahmenbedingungen, die eine Teilnahme beeinflussen.

Um das an einem fiktiven Beispiel zu konkretisieren: Hannah würde gern an einer Weiterbildung teilnehmen, doch ihre finanziellen (Teilzeitarbeit) und zeitlichen (Kinderbetreuung) Mittel reichen nicht aus. Ihren Platz nimmt daher jemand ein, der bereits über die nötigen Ressourcen verfügt. Dies verdeutlich die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. 

Wer einen höheren Bildungsabschluss hat, hat auch ein höheres Einkommen

Einkommen und Bildungsabschlüsse stehen in einem bestimmten Zusammenhang, wie mehrere Studien, einschließlich des aktuellen OECD-Berichts, verdeutlichen. Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen haben zumeist ein gesichertes und höheres Einkommen als Personen mit niedrigeren Bildungsniveaus. Auch die Erhebung der Statistik Austria Bildung in Zahlen 2022/2023 (PDF) zeigt dies: Menschen mit Diplom- oder Masterstudium verdienen 18 Monate nach dem Abschluss rund 3.600 Euro, ohne Studium ist der Verdienst geringer. Dabei gibt es allerdings einen Unterschied zwischen Männern und Frauen: Bei gleicher Ausbildung verdienen Männer etwa 300 bis 600 Euro mehr im Monat als Frauen. Das niedrigste Einkommen haben laut Studie Menschen, die höchstens einen Pflichtschulabschluss (Absolvierung der 9. Schulstufe) oder keinen Abschluss haben. Diese Menschen leben dadurch häufiger an der Grenze zur Armut. 

Aber ganz so einfach ist es nicht: Hohe Bildungsabschlüsse sind kein Garant gegen Armut

Dennoch sind hohe Bildungsabschlüsse kein Garant für ein sicheres Einkommen, beständige Arbeitsverhältnisse oder als Ausweg von Armut. Armut und soziale Ungleichheit haben weitaus komplexere Ursachen als allein den Zugang zu Bildung, Abschlüssen oder Zertifikaten. Dies diskutiert der Armutsforscher Christoph Butterwegge in mehreren Artikeln. Trotz der Tatsache, dass immer mehr Menschen Hochschulstudien absolvieren und die Teilnahme an Angeboten der Erwachsenenbildung mit 52% relativ hoch ist, steigt die Anzahl der Menschen, die in Armut oder an der Grenze zur Armut leben, seit 2018 in Österreich leicht an (Statistik Austria). Auch neuere Phänomene wie das „neue Prekariat“ verdeutlichen dies. Gemeint sind damit Menschen, die hohe Bildungsabschlüsse haben, aber keine Anstellung bekommen oder einen Job ausüben müssen, für den sie überqualifiziert sind. Darunter fallen Menschen, die sich in Werkverträgen, freien Dienstverhältnissen oder befristeten Arbeitsverträgen wiederfinden: Betroffen seien vor allem der Kunst- und Wissenschaftsbereich, aber auch die IT-Sektor sowie die Medienarbeit. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Veränderungen am Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnisse sowie weitere Faktoren wie soziale Herkunft, Geschlecht oder Diskriminierung, haben ebenfalls Einfluss auf die Beschäftigungsquote beziehungsweise die Armutsgefährdung. 

Hier wieder ein fiktives Beispiel: Peter hat im Erwachsenenalter die Matura nachgeholt und war Teil einer Qualifizierungsmaßnahme. Regelmäßig besucht er Weiterbildungen, die ihm finanziert werden, um seine fachlichen Kenntnisse zu erweitern. Trotz seiner guten Qualifikationen findet er jedoch am Arbeitsmarkt nicht genügend freie Stellen in seiner Berufssparte. Obwohl er gut ausgebildet ist, hat er keine Aussichten auf einen sicheren Job.

Erwachsenenbildung eröffnet Entscheidungsmöglichkeiten

Armut oder Armutsgefährdung beziehen sich allerdings nicht nur auf das Einkommen: Wenig Entscheidungsmöglichkeiten und mangelnde Selbstbestimmung sind ebenfalls Formen von Armut, wie der Vorsitzende der Armutskonferenz in einem Interview betont. Menschen mit höheren formalen Bildungsabschlüssen haben zumeist mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Jemand mit einer abgeschlossenen Lehre oder Matura hat zum Beispiel mehr Wahlfreiheit als jemand ohne Abschluss. Hier kann die Erwachsenenbildung – gemeinsam mit anderen Maßnahmen – ansetzen. Das Nachholen des Pflichtschulabschlusses garantiert zwar nicht sofort einen sicheren Job, eröffnet aber mehrere Möglichkeiten für den weiteren Berufsweg. 

Das fiktive Beispiel von Susanne soll dies verdeutlichen: Susanne hat in ihrer Jugend die Pflichtschule nicht abgeschlossen. Sie fand nur eine Anstellung als Hilfsarbeiterin im Lager eines großen Versandhauses. Die Arbeit ist körperlich und psychisch sehr belastend, und trotzdem kommt sie mit ihrem Lohn kaum über die Runden. Sie besucht eine Bildungsberatung und fasst während des Gesprächs den Entschluss, ihren Pflichtschulabschluss nachzuholen. Dieser wird aus öffentlichen Mitteln finanziert, was ihr den Zugang erleichtert. Da sie beim örtlichen Arbeitsmarktservice vorgemerkt ist, erhält sie zusätzlich eine Beihilfe zur Deckung ihres Lebensunterhalts. Während der Kurse entdeckt sie ihr Interesse für Chemie: Nach bestandener Abschlussprüfung beginnt sie eine Ausbildung zur Chemielaborantin. Die nachgeholten Bildungsabschlüsse eröffnen Susanne neue Berufs- und Einkommensperspektiven. Außerdem nimmt sie aus den Bildungsangeboten mehr Selbstvertrauen, neue Freund*innen und mehr Entscheidungsmöglichkeiten mit.

Erwachsenenbildung fördert Teilhabe

Armut umfasst auch den Ausschluss von gesellschaftlichem, politischem und kulturellem Leben. Auch wenn Erwachsenenbildung so einen Ausschluss nicht automatisch verhindern kann, kann sie doch zu mehr Teilhabe beitragen. Denn sie kann zu mehr Selbstbestimmung, kritischem Denken und Handlungsfähigkeit verhelfen oder dazu führen, dass soziale Ungleichheiten überhaupt erst benannt werden können.

Beispiele dafür gibt es viele, eines ist das Projekt PreQual. Das Projekt richtet sich an migrantische Frauen*, die eine Ausbildung im Gesundheits- und Pflegebereich machen wollen. Das Projekt hat aber nicht nur die Eingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt zum Ziel, sondern will auch die Position von migrantischen Frauen in der Gesellschaft stärken, indem sich die Teilnehmenden mit Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen. 

Warum wir die Erwachsenenbildung trotz ihrer Grenzen brauchen

Ein abschließender, einfacher Schluss lässt sich aus den verschiedenen Studien, Publikationen und Interviews nicht ziehen: Es wäre fatal zu behaupten, wir könnten auf Erwachsenenbildung verzichten oder sie aufgrund ihrer strukturellen Grenzen als unwirksam betrachten. Ebenso fatal wäre es, sich ausschließlich auf Weiterbildung als Lösung für Armut zu verlassen. Soziale Herkunft, strukturelle Barrieren sowie politische und ökonomische Rahmenbedingungen bleiben nach wie vor entscheidend für den Bildungs- und Berufsweg eines Menschen. Dennoch leistet Erwachsenenbildung – gemeinsam mit öffentlichen Maßnahmen – wichtige Beiträge: Sie kann Teilhabe fördern, Selbstbestimmung vermitteln und über den zweiten Bildungsweg neue berufliche Perspektiven sowie mehr Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen.

Weitere Informationen:
Quelle: EPALE E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

Verwandte Artikel