Auf den Spuren von Auguste Fickert: Öffentliche Plätze als Erfahrungsraum
Vom Theatersaal auf die Straße
Das Konzept hinter "Geschichte spaziert" ist im Jahr der großen Pause entstanden. Als Fremdenführerin in Wien und Schauspielerin im Amateurbereich sah sich Susanna Oberforcher – wie auch viele andere – plötzlich damit konfrontiert, ihren Beruf, den sie lange Jahre sehr gerne ausgeübt hatte, für nicht absehbare Zeit nicht mehr ausüben zu können. Keine TouristInnen kamen mehr nach Wien, die belebten Straßen der Innenstadt waren wie leergefegt und auch an die Arbeit als Schauspielerin war im gewohnten Rahmen nicht zu denken.
Nach einer kurzen Schockstarre besann sich die Fremdenführerin auf den Aspekt, der ihr bei ihrer Tätigkeit am meisten Freude bereitet hatte: Das mündliche Erzählen von Geschichte und vor allem das Erzählen der Geschichte der Menschen, die darin vorkommen. Ihre Liebe zur Schauspielerei kam ihr dabei zugute, als es darum ging, beides zu verbinden und – voilà – "Geschichte spaziert" erblickte die Welt (-geschichte).
Dramatisierte Biografien
Ursprünglich wurden die drei HerausgeberInnen der "Dokumente der Frauen" um 1900 - Auguste Fickert (1856-1910), Rosa Mayreder und Marie Lang - in dem Theaterstück "Die Zeitungsweiber" 2019 wieder zum Leben erweckt. Die Aktualität der Themen von damals überraschten und faszinierten die Autorin gleichermaßen. Unter anderen ist "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" weiterhin eine unerfüllte Forderung mit weitreichenden Konsequenzen für die Frauen. Auf der Tatsache basierend, dass sich diese drei Frauen, die doch ein großes gemeinsames Ziel, das Frauenwahlrecht, zusammengeführt hatte, sich innerhalb kürzester Zeit zerstritten und wieder getrennte Wege gingen, wurde das Theaterstück entwickelt, das auf genauen historischen Recherchen aufbaut und den Gesetzen der Theaterdramaturgie gehorchend auch einen fiktiven Teil enthält.
Die zweite dramatisierte Biografie fand 2019 im Rahmen der "Plattform für Streitreden" anlässlich 100 Jahre Frauen an der Technischen Universität Wien Platz, in Form einer 30-minütigen Streitrede als Rosa Mayreder, deren Mann kurzzeitig Rektor an der TU war. Mayreder setzte sich dabei unter anderen mit den negativen Auswirkungen der neu entwickelten Technologien auseinander und hielt es für bedenklich, dass sich "... niemand mit der Frage aufhält, was diese technischen Errungenschaften für die Seele des Menschen bedeuten".
Diese interaktive Intervention im öffentlichen Raum und die Umstände um die Corona-Pandemie veranlassten Oberforcher dazu, einen theatralen Spaziergang als Auguste Fickert anzubieten.
Alltägliche Wege als Erfahrungsraum
Die Spaziergänge, unterstützt durch ein Audiosystem, stellen vor allem in Zeiten von Corona ein adäquates Format dar, Inhalte auf sehr persönliche aber auch medial passende Weise sicher zu vermitteln. Wohlfühlabstände können ohne Probleme und ohne inhaltliche Einschränkungen eingehalten werden. Im Vorfeld wurden die Inhalte der Führung für ein heterogenes Publikum recherchiert, selektiert und aufbereitet.
Der Spaziergang an sich dient als Instrument zur Wahrnehmung der oft alltäglichen Lebensumwelt, die hier aber mit historischen und gesellschaftspolitischen Inhalten verbunden wird. Durch die kulturelle und mit gesellschaftspolitischen Themen gespickte Auseinandersetzung mit dem Stadtteil werden Anknüpfungspunkte geschaffen, die Umwelt wird neu kontextualisiert.
Inhalte und Wissen werden vermittelt und an bisher unbekannte aber auch an Alltagsorte geknüpft. Der öffentliche Raum wird für eine kulturelle Aktivität etabliert und zum Erfahrungsraum. Der veränderte Kontext verändert die Wahrnehmung und die Einordnung von Alltäglichem, von Orten und dem öffentlichen Raum.
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemfeldern
Aus Erfahrung ist der spannendste Aspekt für die TeilnehmerInnen, das aktuelle sozialpolitische Themen schon vor einem Jahrhundert in der Öffentlichkeit diskutiert wurden und sich daher die Frage stellt, welche Ursachen ihre Verwirklichung über die Jahrhunderte hinweg verhindert hat. Ein sehr heterogenes Publikum wird auf Basis vergangener, aber auch aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen angesprochen und beschäftigt sich mit Problemfeldern, die damals wie auch heute noch aktuell sind. Eine spontane, lebendige und vor allem gemeinsame Auseinandersetzung mit diesen Themen wird ermöglicht. Die historische Figur Auguste Fickert informiert, moderiert und stößt die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen an. Die theatralen Spaziergänge, diese Form der dramatisierten Geschichte, initiieren Bildungs- und Kommunikationsprozesse und sprechen die ZuhörerInnen unmittelbar und auf eine intensive Art und Weise an.
Die Spaziergänge initiieren weiters "Zufallsaufmerksamkeit". Auch nicht offiziell an den Führungen beteiligte Personen werden aufmerksam und setzen Ihre Umgebung in neue Kontexte.
Über den Stadtspaziergang
Durchgeführt werden die Spaziergänge in historisierenden Kostüm als Auguste Fickert. Der Spaziergang führt die TeilnehmerInnen durch den 18. und 19. Wiener Gemeindebezirk an Orte, die im direkten Bezug zur Person stehen. Gestartet wird in der nach Auguste Fickert benannten Fickertgasse Richtung Philippovichgasse. Prof. Eugen Philippovich war einer von mehreren Unterstützern von Auguste Fickert, der dazu beitrug, dass ihre Anliegen in der Öffentlichkeit Gehör fanden bzw. als Gesetzesanträge in den Reichsrat eingebracht werden konnten. Der Spaziergang endet im Türkenschanzpark, in dem 1929 ein Denkmal für Auguste Fickert errichtet wurde.
Treffpunkt ist die Werkmanngasse 2, vor dem Klosehof, 1190 Wien, das Ende bei der Meierei im Türkenschanzpark.
Die nächsten Spaziergänge finden am 11., 12. und 13. Juni, jeweils um 16 Uhr statt - mit Kopfhörersystem, um einen sicheren Abstand zwischen den TeilnehmerInnen zu gewährleisten. Der Eintritt ist frei. Anmeldung ist via E-Mail möglich.
Mag.a Susanna Oberforcher ist gebürtige Lienzerin, wohin es sie immer noch und immer wieder hinzieht. In Wien bietet sie als staatlich geprüfte Fremdenführerin unter anderem Stadtführungen mit Schwerpunkt Frauen und Menschenrechtsspaziergänge gemeinsam mit Amnesty International an. Sie ist Obfrau des von ihr gegründeten Vereins "Theaterweiber", der feministische Kulturarbeit fördert und Projekte realisiert, bei denen Frauen die Hauptrolle spielen.
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