Biografiearbeit: Die eigene Geschichte als Lerngegenstand

09.03.2021, Text: Jennifer Friedl, Redaktion/CONEDU
Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie hilft dabei, eigene Ressourcen aufzudecken. Lernprozesse, in die lebensgeschichtliche Aspekte einfließen, machen zudem mehr Freude, so Institutsleiterin des ÖIBA, Renate Brüser im Interview.
"Die Beschäftigung mit Vergangenem führt zu einer Lebensbilanz", so Brüser.
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Biografiearbeit findet auch in der Erwachsenenbildung, wie z.B. der Persönlichkeitsbildung, Anwendung. Sich mit prägenden Ereignissen, Veränderungen eigener Sichtweisen und dem Einfluss politischer und sozialer Umstände auf den Lebensweg auseinanderzusetzen, kann für Lernprozesse Erwachsener sehr wertvoll sein, so Renate Brüser Leiterin des Österreichischen Instituts für Biografiearbeit (ÖIBA). Sie spricht darüber, was biografieorientierte Ansätze zum Lernen im Erwachsenenalter beitragen können, welche Themen häufig bearbeitet und welche Kompetenzen im Zuge der Biografiearbeit entwickelt werden.

Friedl: In der Biografiearbeit erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Was können biografieorientierte Ansätze Ihrer Ansicht nach zum Lernen im Erwachsenenalter beitragen?

Brüser: In der Erwachsenenbildung spricht man häufig von Anschlusslernen. Bereits Gelerntes wird mit neu Gelerntem verknüpft und kann so leichter gemerkt werden. Eine eigene Lebensgeschichte mit einer Unzahl von Ereignissen, Gedanken und Gefühlen hat jeder Mensch. Themen, die die eigene Biografie berühren, sind besonders ansprechend und interessant.

 

Lernprozesse, bei denen lebensgeschichtliche Aspekte mit einbezogen werden, fallen leichter, machen mehr Freude und das Gelernte wird schneller verinnerlicht.

Inwieweit heißt über sich selbst lernen im Kontext von Biografiearbeit auch fürs Leben lernen?

Wenn ich weiß, was ich gelernt habe, wie ich der Mensch geworden bin, der ich jetzt bin, wenn ich verstehe, wie die gesellschaftlichen, politischen, historischen und sozialen Umstände auf meinen Lebensweg eingewirkt haben, dann fällt es mir leichter, mich und mein bisheriges Leben mit schönen und schmerzhaften Erfahrungen anzunehmen.

 

Die Beschäftigung mit Vergangenem führt zu einer Lebensbilanz, Ressourcen tauchen auf, Sichtweisen und Meinungen über sich und die Welt können sich ändern. Dies hilft das gegenwärtige Leben zu gestalten und Lebensperspektiven für die Zukunft zu entwickeln.

In welchen Bereichen der Erwachsenenbildung findet Biografiearbeit häufige Anwendung?

Bis jetzt findet Biografiearbeit hauptsächlich in Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung und bei Veranstaltungen, die das Thema Erinnern haben, z.B. bei Erzählcafés, statt.

Gibt es Methoden, die sich besonders bewährt haben?

Eine besonders wichtige Methode ist die Lebenslinie. Dabei werden wichtige Lebensereignisse chronologisch geordnet. Dadurch bietet die Lebenslinie einen guten Überblick über das bisherige Leben. Es gibt viele Varianten dieser Methode. Die Lebenslinie kann auf Papier gemalt oder als Seil auf den Boden aufgelegt werden. Die Lebensereignisse und Lebensphasen können schriftlich beschrieben werden oder mit Symbolen versehen werden. Über die eigene Lebenslinie einer anderen Person oder einer Gruppe zu erzählen, bringt oft zusätzliche Erkenntnisse. Sowohl die erzählende Person als auch die Zuhörenden erleben das als bereichernd und intensiv.

 

Eine weitere für die Biografiearbeit spezifische Methode ist der Erinnerungskoffer. Dazu werden Gegenstände zu einem bestimmten Thema und/oder aus einer bestimmten Zeit gesammelt und in einen Koffer verpackt. Z.B. Küchenutensilien aus den 40er Jahren oder Wohnungsgegenstände und Kleidung aus den 70ern. Der Koffer wird zur Veranstaltung mitgebracht, die anwesenden Personen können den Koffer auspacken, die Gegenstände betrachten und befühlen und sofort werden Erinnerungen wach. Ein Erinnerungskoffer fördert das Erinnern und das lebhafte Erzählen darüber. Bei einer Gruppe gleichen Alters entsteht ein besonderes Wirgefühl.

Biografiearbeit richtet sich an Menschen jeden Alters. Welche Themen spielen besonders bei Erwachsenen meist eine große Rolle?

Das wichtigste Thema ist die Familienbiografie.
Jeder Mensch stellt sich die Frage, wo komme ich her? Wer waren meine Eltern und Großeltern? In welcher Familie bin ich aufgewachsen? Welche Traditionen wurden dort gepflegt? Welche Meinungen und Geisteshaltungen wurden dort vertreten? Wie haben diese mich als Kind geprägt? Welche Werte, die ich in der Kindheit vermittelt bekommen habe, lebe ich heute noch, von welchen habe ich mich verabschiedet und warum?

Ein weiteres bedeutsames Thema ist die Berufsbiografie. Das berufliche Tätigsein, meist einige Jahrzehnte lang, bietet die Möglichkeit, sich für die Welt und die Gesellschaft einzusetzen, das zu tun, was einem wichtig ist. Im Berufsleben kann man zeigen, was man kann, was enorm wichtig für das Selbstbewusstsein ist. Durch den Beruf und die Arbeit bekommt man einen Platz in der Gesellschaft, verdient Geld für den Lebensunterhalt und für zusätzliche Hobbys. Erfolg und Misserfolg im Beruf zählen zu den intensivsten Lebenserfahrungen des Menschen.

Was kann die Beschäftigung mit der eigenen Biografie zu non-formalem und informellem Kompetenzerwerb beitragen?

Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie gibt Orientierung. Bedeutsame Lebensereignisse kommen in der Erinnerung. Sich bei biografischer Arbeit bewusst zu machen, was man schon alles geschafft hat, welche Hindernisse man überwunden hat, stärkt und gibt Lebensmut, das gegenwärtige Leben zu gestalten und die Zukunft zu planen.

Bei der Biografiearbeit in Gruppen erwirbt man zusätzliche Kompetenzen: Das Kommunizieren in der Gruppe, das Ausdrücken und Erzählen der eigenen Erlebnisse, das empathische Zuhören der Lebensgeschichten anderer teilnehmenden Personen, das Kennenlernen anderer Sichtweisen und Bewältigungsstrategien, das Vergegenwärtigen der eigenen Grenzen und Entscheidungen, was man erzählen möchte und was nicht. Ebenso wird der Umgang mit kreativen Methoden gelernt. Der biografische Tanz zum Beispiel unterstützt Lebensereignisse körperlich auszudrücken. Beim Erinnerungstheater werden die persönlichen Geschichten der Anwesenden theatralisch nachgespielt und es bietet die Möglichkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, was das Einfühlungsvermögen in andere Menschen erhöht.

Weitere Informationen:
Quelle: EPALE E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

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