Wie kann Demokratiebildung gelingen, Frau Fridrik?

17.10.2024, Text: Lucia Paar, Redaktion/CONEDU
Demokratiebildung muss den Fokus auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse legen, so Stefanie Fridrik vom Demokratiezentrum Wien. Wir haben sie gefragt, was Demokratiebildung ausmacht und wie Bildungsangebote aussehen sollten.
Porträt von Stefanie Fridrik
Stefanie Fridrik arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projektmanagerin und Trainerin am Demokratiezentrum Wien.
Foto: Alle Rechte vorbehalten, Alexander Peskador, auf erwachsenenbildung.at

Nach dem Demokratieindex der britischen Zeitschrift The Economist sind 74 von 167 Ländern und Territorien weltweit Demokratien, wobei nur 24 Länder als vollständige Demokratien gelten. 50 Länder sind demnach unvollständige Demokratien, die Mängel aufweisen - darunter die USA oder unser Nachbarland Italien. Ist die Zeit der Demokratien vorbei? Was können wir dagegen tun? Auf der Suche nach Lösungen stößt man auch auf die Demokratiebildung, die ein Auflösen demokratischer Strukturen mitverhindern soll. Was kann sie leisten? Und wie kann sie gelingen? Darüber haben wir von CONEDU mit Stefanie Fridrik vom Demokratiezentrum Wien gesprochen.

Im Kontext unserer Demokratie beschäftigen uns als Gesellschaft gerade viele Fragen: Ist das Ausschließen antidemokratischer Politiker*innen von Wahlen demokratisch? Was ist demokratisch? Wie gefährdet ist unsere Demokratie? Und was kann man dagegen tun? Wie kann mehr Vertrauen in die Demokratie aufgebaut werden? Die Antworten darauf sind unterschiedlich. Eine davon ist, dass es mehr Demokratiebildung in unserer Gesellschaft braucht – ist das so? 

Stefanie Fridrik: Hier ist es wichtig, den Begriff der Demokratiebildung etwas genauer in den Blick zu nehmen. Wenn wir darunter prinzipiell die Entwicklung von Kompetenzen für ein demokratisches Zusammenleben verstehen, dann bezeichnet Demokratiebildung nicht nur ein dezidiertes Bildungsangebot, an dem Menschen teilnehmen können oder eben nicht. Als soziale Wesen entwickeln wir diese Kompetenzen schon dann, wenn wir in einem demokratischen Gefüge leben und uns in ein Verhältnis zu unserer sozialen und politischen Umwelt setzen. Dieser Austausch mit unseren Mitmenschen und unser Verhältnis zur Welt erzeugt also schon einen Modus der Demokratiebildung. Was ich damit sagen will: Der Mensch wird nicht erst durch Angebote der Demokratiebildung zu einem politischen und demokratischen Subjekt. Diese Angebote – und das ist auch ihr designiertes Ziel – stellen aber eine zentrale Unterstützung dar, um gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen und Herausforderungen als mündige Personen begegnen zu können. Das bedeutet, dass sie uns dazu befähigen, diese kritisch zu reflektieren, zu diskutieren und zu beurteilen und uns auf dieser Grundlage politisch am demokratischen System zu beteiligen. Ohne an dieser Stelle zu tief in eine Fachdebatte einzutauchen: Wenn ich von Demokratiebildung spreche, meine ich eine politische Bildung in der Demokratie.

Wir sind also schon ohne Demokratiebildung politische Wesen, Bildung hilft aber dabei, mit Herausforderungen kritisch umzugehen.

Genau. Wobei Demokratiebildung als Bildungsangebot nicht als Rettungsfallschirm für gesellschaftliche Problemlagen herangezogen werden kann. Gerade wenn wir uns als Gesellschaft überfordert fühlen, weil gesellschaftliche Ordnungen und Wertesysteme durch antidemokratische Tendenzen gefährdet scheinen, wird diese Forderung und Hoffnung besonders laut. Von Demokratiebildung zu erwarten, möglichst schnell eine bestimmte Wirkung zu erzielen, würde nicht nur auf einem Missverständnis solcher Bildungsprozesse beruhen, sondern ihrem grundsätzlichen Anliegen der Stärkung einer kritikfähigen Bürger*innenschaft zuwiderlaufen. Ganz plakativ gesprochen: Frontalunterricht in einem Seminarraum zur idealtypischen Staatsform Demokratie wird nicht das nötige Demokratiebewusstsein fördern, das wir für eine lebendige demokratische Gesellschaft brauchen. Dabei handelt es sich um einen wesentlich komplexeren und langwierigeren Prozess.

Das heißt: Demokratiebildung ist notwendig, aber ganzheitlich und nicht als kurzfristige Maßnahme.

Ja, unsere Gesellschaft braucht mehr Demokratiebildung. Aber nicht, weil wir es momentan mit einem Anstieg einander verstärkender Krisenphänomene zu tun haben. Sondern weil Demokratie, Demokratiebewusstsein und Demokratiebildung voneinander abhängig sind und wir das Demokratische in einem permanenten Aushandlungs- und Lernprozess immer wieder aktualisieren müssen. Dafür brauchen wir die nötige Ausstattung.

Und was braucht es, damit Demokratiebildung gelingen kann?

Das EINE Erfolgsrezept für eine gelungene Demokratiebildung gibt es natürlich nicht und kann es auch nicht geben. Demokratiebildung ist als politische Bildung selbst immer in Transformation begriffen. Da gesellschaftliche Veränderungen, Übergänge und Brüche die politische Bildung leiten und kontinuierlich herausfordern, muss diese sich auch immer wieder öffnen und neu orientieren.

Zentral ist, in Bildungsprozessen konkrete Erfahrungen in Bezug auf Demokratie im Alltag machen zu können, um dadurch auch die Reflexion über gesellschaftlich-politische Prozesse zu ermöglichen. Der Fokus sollte dabei vor allem auf den sichtbaren und unsichtbaren Macht- und Herrschaftsverhältnissen liegen, die unsere Gesellschaft und unser Alltagsleben strukturieren. 

Was heißt das konkret für Bildungsangebote?

Es braucht Bildungssettings, die genügend Raum und Zeit bieten, um gegenwärtige Fragen vertiefend besprechen und machtkritisch analysieren zu können. Dabei sollen wir die Möglichkeit haben, auch ganz gezielt dorthin zu schauen, wo anti-demokratische, autoritäre und menschenfeindliche Tendenzen Einzug halten und sich festsetzen. Es geht darum, diese als solche sicht- und benennbar zu machen, damit wir uns individuell die Fragen stellen können: Welche Konsequenzen haben diese Tendenzen für unsere Gesellschaft, aber auch für mein ganz persönliches Alltagsleben? Auf welche Weise sind die Menschen in meinem Umfeld davon betroffen? Möchte ich das so wirklich haben?

Bildungssettings der Demokratiebildung sollten als Übungssituationen gedacht sein, in denen auf inhaltlicher und didaktisch-methodischer Ebene solche Erfahrungs- und Reflexionsmomente angeregt und begleitet werden. Dabei geht es auch darum, Widersprüche offen zu diskutieren und Strategien zu erlernen, diese auszuhalten. Das ist unbedingt notwendig, um eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. 

Ambiguitätstoleranz bedeutet, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten auszuhalten.

Genau. Eine solche Praxis politischer Bildung hat viel mit Emotionen zu tun, nicht zuletzt, weil auch Politik immer etwas mit Emotionen zu tun hat. Vor allem Angst und Wut werden bewusst politisch mobilisiert und populistische Kommunikation setzt stark auf Manipulation durch eine emotionalisierende Sprache. Auch Demokratiebildung als politische Bildung steht zunehmend vor der Frage, welche Herangehensweisen bzw. Strategien geeignet sind, um adäquat und sensibel mit der emotionalen Dimension politischer Fragen umzugehen. Das stellt für Demokratiebildung und für Personen, die diese praktizieren, eine große Herausforderung dar. Ein angemessener und konstruktiver Umgang mit Emotionen und Emotionalisierung bedeutet in diesem Bildungskontext auch die gebotene kritisch-analytische Distanz zu wahren. In einem solchen Balanceakt steckt für alle Beteiligten ein großes Frustrationspotenzial.

Der Forschung ist diese Thematik nicht neu und es braucht auch zukünftig eine vertiefende und differenzierte Auseinandersetzung damit. Für mich ist in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Arbeit von Anja Besand, der Direktorin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie an der TU Dresden, ein zentraler Bezugspunkt.

In der Demokratiebildung gilt es also auch, mit Emotionen zu arbeiten. Sie forschen zu kritischer politischer Bildung an der Schnittstelle zu künstlerischer und aktivistischer Praxis. Sehen Sie hier die Kunst als Chance, mit Emotionen umzugehen? 

Kunst erlaubt uns, Themen nicht nur auf einer rational-diskursiven Ebene, sondern auch auf einer emotionalen, sensorischen und unterbewussten Ebene zu begegnen. In der Kunst lerne ich die Dinge nicht, sondern erfahre sie ästhetisch. Kunst öffnet den Raum für Gefühle in all ihrer Komplexität, ihrer Ambivalenz und ihren Widersprüchen. Das ist eine ganz entscheidende Komponente, um die Kunst Demokratiebildung erweitern kann.

In meiner Forschung interessiere ich mich vor allem für jene künstlerischen Praktiken, deren Anliegen es ist, strukturelle gesellschaftliche Problemlagen aufzuzeigen und Menschen dazu zu bewegen, politisch aktiv zu werden. Kritische Aktionskunst im öffentlichen Raum zum Beispiel nutzt ästhetische und performative Mittel, um soziale Bedürfnisse und politische Forderungen auf sehr unmittelbare Art erfahrbar zu machen. Das kann für Menschen, die das Kunstwerk rezipieren, eine unglaublich inspirierende Wirkung haben und dazu beitragen, sie politisch handlungsfähig zu machen.

Ich persönlich finde nämlich, dass angesichts struktureller Verhältnisse, die Machtgefälle, Diskriminierung und soziale Ausschlüsse erzeugen, Demokratiebildung Menschen dazu motivieren sollte, in ein Tun zu kommen und Veränderungen aktiv mitzugestalten. Künstlerische Praktiken können genau dahingehend eine Wirkung erzeugen.

Kunst kann demnach dabei unterstützen, Politik und Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Gibt es Good-Practice-Beispiele an der Schnittstelle zu Kunst und Demokratiebildung? Wenn ja, welche? 

Ich arbeite in meiner Forschung mit der NGO Radikale Töchter zusammen, die 2019 als Reaktion auf den zunehmenden rechtspopulistischen Trend in Deutschland gegründet wurde. In ihrem künstlerisch-bildnerischen Ansatz kombinieren Radikale Töchter politische Bildung mit Mitteln der Aktionskunst. Ihr Fokus liegt dabei auf ländlichen Räumen in Ostdeutschland, insbesondere auf Orten, die stark von wachsenden rechtsextremen Bewegungen betroffen sind.

In den Workshops von Radikale Töchter beschäftigen sich die Teilnehmenden mit verschiedenen internationalen Beispielen von Aktionskunst. Sie diskutieren diese einerseits inhaltlich, andererseits anhand eines von Radikale Töchter entwickelten Methodenkoffers. Das bildet für die Teilnehmenden wiederum die Grundlage für die Erarbeitung eigener Ideen für politische Kunstaktionen. Im Laufe der Workshops bekommen die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit ihren eigenen Themen auseinanderzusetzen und daraus eigene politische Anliegen und Forderungen zu formulieren. Sie lernen, wie die eigene politische Wut als emotionale Kompetenz in Mut und Aktionskunst umgewandelt werden kann. Dabei werden in einem kollaborativen Prozess kreative Strategien entwickelt, um diese Anliegen dann auch öffentlich zu artikulieren. Radikale Töchter nutzen dabei künstlerisch-aktivistische Ansätze, um in ihrer Bildungsarbeit Räume für eine kritische Reflexion über gesellschaftliche Normen, Machtstrukturen und Zukunftsvisionen zu schaffen. Durch diese Methodik schaffen sie Freiräume, in denen vor allem junge Menschen sich mit radikal demokratischen Formen politischer Partizipation und Handlung auseinandersetzen können.

Meiner Ansicht nach demonstriert die Bildungsarbeit von Radikale Töchter somit, wie Kunst einerseits zur Vermittlung und Reflexion politischer Inhalte und andererseits zur Anregung eigenen politischen Handelns genutzt werden kann. In ihrer Arbeit fördern Radikale Töchter den politischen Diskurs, die Selbstwirksamkeit und die politische Handlungsbereitschaft.

Vielen Dank für diese Einblicke!

Weitere Informationen:
Quelle: EPALE E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

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