Politische Bildung: Mehr als nur BürgerInnen zur Wahlurne bringen

Jennifer Friedl: Inwiefern können Ihrer Meinung nach Wahlen, ob in Österreich oder Europa, von Erwachsenenbildung begleitet werden?
Hakan Gürses: Wahlen sind zwar nicht das einzige und auch nicht das wirkungsvollste Instrumentarium der demokratischen Mitbestimmung, aber derzeit immerhin das relevanteste unter den ohnehin etwas dünn gesäten realen Werkzeugen der Teilhabe. Noch bis zum letzten Jahrzehnt war es wohl die wichtigste, der politischen Erwachsenenbildung von der Öffentlichkeit zugesprochene Aufgabe, BürgerInnen überhaupt zum Wählen zu bewegen, egal, welche Partei sie dabei wählten. Aber gerade dieser letztgenannte Aspekt scheint heute angesichts der politischen Entwicklung in Europa und darüber hinaus an Bedeutung zu gewinnen. Es gibt nicht wenige BürgerInnen, die jene Parteien und Personen demokratisch wählen, welche sich offen gegen die Demokratie bzw. für deren illiberale Varianten aussprechen. Oder sie stimmen eben bei den EU-Wahlen für jene Parteien, welche die EU am liebsten abschaffen wollen. Das ist ein Paradoxon, das der Demokratie und dem Friedensprojekt der EU nicht zuträglich ist. Darum scheint es mir besonders wichtig, zu betonen, dass Wahlen von der politischen Erwachsenenbildung begleitet werden müssen. Ob die politische Erwachsenenbildung das auch kann, ist freilich eine andere Frage, die zum Großteil von ihrem Selbstverständnis und ihren Methoden sowie den Rahmenbedingungen abhängt.
Wie könnten aus Ihrer Sicht Formate der politischen Erwachsenenbildung aussehen, die sich dieser Thematik widmen?
Politische Erwachsenenbildung ist vor allem Bildung, darum muss sie ihre Ziele und Methoden längerfristig anlegen. Ich halte wenig von einer Anlasspädagogik, die sich stets an besonderen Tagen und am aktuellen politischen Geschehen orientiert. Freilich können diese zur Popularität der Bildung beitragen, zumal die Medien solche Anlässe gerne nutzen, was wiederum der Bildung zugutekommen kann. Aber Bildungsarbeit ist eine langwierige und langfristig zu planende Tätigkeit. Darum sollte die Beschäftigung mit Wahlen nicht im Wahljahr selbst beginnen und enden. Politische Bildung muss das Thema mit all seinen positiven, für die Demokratie relevanten, aber auch mit den Schattenseiten kritisch und pluralistisch aufbereiten. Die effektivsten Formate der politischen Bildung sind lebensweltlich eingebettete Lernarrangements, wie etwa die Gemeinwesenarbeit. Aufsuchende, in Projekten auszuarbeitende, handlungsorientierte Formen des Lernens können wirkungsvoll und nachhaltig sein.
Politische Bildung ist aber vor allem ein Prozess der Selbstermächtigung und der Selbstbestimmung zur Mündigkeit. Informationsvermittlung spielt hier eine zentrale Rolle, etwa durch Dossiers, Informationsveranstaltungen oder spielerische Zugänge zur eigenen Entscheidungsfindung wie der Wahlomat oder die Wahlkabine. Die wohl wichtigsten Säulen der politischen Bildung sind allerdings historisches Wissen und Kritikfähigkeit, das heißt politische Erwachsenenbildung braucht Zeit und Raum. Darum lehne ich die sprichwörtlich gewordene Funktion der Feuerwehr für unsere Arbeit ab und setze auf langfristige Lern- und Entscheidungsprozesse. Auch Social Media stellt heute ganz zentrale Kommunikationsplattformen dar, die einerseits als Online-Raum für die erwähnten Formate dienen können, andererseits selbst neue Formate hervorbringen, wie zum Beispiel Politik-Chats.
Was braucht es aus Sicht der Erwachsenenbildung, um das Interesse der Menschen am politischen Geschehen zu fördern und sie dazu zu motivieren, sich aktiv zu beteiligen, also z.B. an Wahlen teilzunehmen?
Die wichtigste Motivation, etwas wieder zu tun, ist wohl die Erfahrung, dass es sinnvoll war, es getan zu haben. Hier ist es sehr wichtig, dass BürgerInnen Vertrauen in die Abläufe und Einrichtungen der pluralistischen Demokratie, vor allem eben in die Prozesse der Entscheidungsfindung haben bzw. bekommen. Wenn ich etwa als PolitikerIn die lebenswichtige Bedeutung der Instrumente direkter Demokratie, z. B. Volksbegehren, in der Wahlrede erwähnt habe und dann, wenn ich bereits im Parlament sitze, mich dagegen wehre, die Forderung eines massenhaft unterstützten Volksbegehrens im Parlament zu behandeln, so habe ich nicht nur meinen politischen GegnerInnen geschadet, sondern vor allem der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Zudem wäre es ein glaubhaftes Zeichen, Erwachsenenbildung im Haushalt und in Regierungsplänen mit einem entsprechend höheren Stellenwert zu positionieren, um zu zeigen, dass die öffentliche Hand und die offizielle Politik sie als einen die Partizipation fördernden, für die Demokratie relevanten Bildungssektor betrachten und sie nicht nur in Wahljahren mit der Mission betrauen, sie möge für eine hohe Wahlbeteiligung sorgen.
Inwiefern kann Erwachsenenbildung dazu motivieren, sich beteiligen zu wollen und wo sehen Sie für die Zukunft besonderen Handlungsbedarf?
Neben dem bereits Erwähnten, ist Politische Bildung nicht nur Motivator. Ihre Aufgabe liegt nicht vornehmlich oder zentral darin, BürgerInnen zu etwas zu bewegen, sie an ihre Pflichten zu erinnern oder ihnen ein schlechtes bzw. gutes Gewissen einzujagen, wenn sie dies oder jenes nicht tun oder tun. Der normative Aspekt der politischen Bildung liegt darin, dass Politik naturgemäß normative Fragen und Hintergründe mit sich bringt. Somit ist politische Bildung nicht nur Bildung, sondern auch, wie der Name sagt, politisch. Da es aber in der Natur des Politischen liegt, dass es nicht monolithisch daherkommt, sondern eben in einer Vielfalt, besteht der wohl nachhaltigste Beitrag der politischen Bildung auch in Sachen Wählen darin, BürgerInnen das Politische näherzubringen. Der politische Mensch geht wählen, wenn er dies für wichtig erachtet, und trifft schon die richtige Entscheidung. Was macht uns zu BürgerInnen in einem Gemeinwesen? Wer gehört dazu und wer nicht und warum? Welche Handlungsspielräume stehen uns dabei zur Verfügung, und wie kann ich diese vergrößern? Welche Politik ist für uns die passende? Das sind Fragen, die politische Erwachsenenbildung in ihren langfristigen und zielgerichteten Veranstaltungen mit ihren TeilnehmerInnen behandeln soll, nicht nur in Wahljahren und möglichst unter materiellen wie immateriellen Bedingungen, die weniger prekär sind als heute.
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