Solidarität mit Geflüchteten: Kann man das (v)erlernen?
Eine explorative Studie an der Universität Graz hat erforscht, welche Lernprozesse Freiwillige im Zuge ihrer Tätigkeit erleben. Als empirische Grundlage dienen Interviews mit Menschen, die sich im Flüchtlingsbereich engagieren. Im Mittelpunkt stehen dabei politische Bildungsprozesse und die Frage, wie sich Wahrnehmungen von Gesellschaft durch freiwilliges Engagement verändern bzw. welche Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden.
Auf Basis dieser Studie thematisierte Bildungswissenschafterin Annette Sprung im Rahmen der ‚Montagsakademie‘ an der Universität Graz die Frage, ob Solidarität (v)erlernt werden kann.
Freiwilliges Engagement in der Flüchtlingsarbeit
Freiwilliges Engagement stellt einerseits einen wichtigen Ausdruck bürgerschaftlicher Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten dar. Andererseits stehen verschiedene Aspekte von Freiwilligentätigkeit gerade in der Erwachsenenbildung immer wieder in der Kritik. Das Abwälzen staatlicher Aufgaben an die Zivilgesellschaft, die Gefahr der Verdrängung von qualifiziertem Fachpersonal und daraus resultierende Deprofessionalisierung, oder auch asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Helfenden und HilfeempfängerInnen sind dabei nur einige der Punkte, die einer kritischen Diskussion bedürfen.
In der Arbeit mit Geflüchteten ist der Anteil ehrenamtlicher HelferInnen besonders groß. Auch für Geflüchtete bietet freiwilliges Engagement die Möglichkeit, in der neuen Gesellschaft Fuß zu fassen. Nicht zuletzt ist Freiwilligentätigkeit oft auch ein Lernort, an dem in individuellen und kollektiven Lernprozessen fachspezifische Kenntnisse, aber auch demokratiepolitische Fähigkeiten, Empathie und Solidarität entwickelt und erprobt werden können.
Solidarität - aber mit wem?
Solidarität erfüllt in einer Gesellschaft wichtige Funktionen wie etwa die Verminderung von Leid oder die Beseitigung von moralischen Missständen. Zentral ist dabei laut Annette Sprung die Frage, wer sich mit wem solidarisch zeige. Das Konzept der ‚Solidarität unter Gleichen‘ stehe hier einer ‚postkommunitären Solidarität‘ (nach Paul Mecheril) mit allen Menschen im Sinne eines universalistischen Verständnisses gegenüber, so Sprung. „Gerade bei der Arbeit mit Menschen, die nicht freiwillig, sondern durch Krieg und Vertreibung zu uns kommen, ist es wichtig, das eigene Solidaritätsverständnis kritisch zu hinterfragen“.
Solidarität ‚verlernen‘: warum Freiwillige aussteigen
Wie Annette Sprung, Brigitte Kukovetz und Rüdiger Tinauer im Rahmen ihrer Studie beobachteten, kommt es immer wieder vor, dass sich Freiwillige aus ihrem Engagement zurückziehen. „Einer der wesentlichen Gründe für einen Ausstieg ist Überlastung“, so Sprung. Als mögliche Gründe dafür nannte sie mangelnde Unterstützung von Seiten der Organisationen oder der Politik, fehlende Abgrenzung, aber auch den Druck durch den öffentlichen Diskurs. „Viele Freiwillige müssen ihr Engagement ihrem sozialen Umfeld gegenüber rechtfertigen oder werden gar dafür angegriffen. Andere sehen sich vielleicht damit konfrontiert, dass ihr Gegenüber nicht ihren Erwartungen entspricht und ziehen sich enttäuscht zurück.“
Trotzdem weitermachen: welche Unterstützung Freiwillige dafür brauchen
Gerade in schwierigen Situationen brauchen Freiwillige Unterstützungsangebote, um ihr Engagement aufrecht erhalten zu können, so Annette Sprung. Sie fordert vor allem die politische Bildung auf, Freiwillige mehr in den Fokus zu nehmen. Daneben böten besonders professionelle Reflexions- und Supervisionsangebote ein großes Unterstützungspotential. Damit würde Freiwilligen erleichtert, sich nicht durch Widrigkeiten beirren zu lassen, sondern ihr Engagement für sich selbst klarer zu definieren und sich weiterhin solidarisch zu zeigen.
Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung in der Erwachsenenbildung
In welcher Gesellschaft wollen wir miteinander leben? In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und demokratischer Erosion ist diese Frage für Erwachsenenbildung von steigender Bedeutung. Mit freiem Auge erkennen wir die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen, die von einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft zeugen. Wie wir leben wollen ist eine Frage, die beim Umgang mit uns selbst und unseren Nächsten anfängt, aber bei weitem nicht dort endet. In postdemokratischen Zeiten stehen die Verhältnisse, Strukturen und Exklusionsmechanismen mindestens ebenso sehr zur Verhandlung, wie humanistische Wertvorstellungen und Aufklärungsideale. Ein Blick, den uns das "Bildungsevangelium" als Erzählung vom persönlichen Erfolg durch Bildung immer wieder verstellt. Alle bisher zur Serie #ebsoli erschienen Beiträge finden Sie hier.
- Freiwillige als Lehrende und Lernende in der Erwachsenenbildung
Nachrichtenbeitrag von 27.03.2017 - Freiwilligenarbeit zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Bedeutung
Nachrichtenbeitrag von 13.12.2016 - Was Freiwillige in der Erwachsenenbildung brauchen
Nachrichtenbeitrag von 21.12.2016 - Montagsakademie: Bildung für alle an der Universität Graz