Bildungsbenachteiligung: Mehr als nicht Lesen und Schreiben können

25.11.2014, Text: Bianca Friesenbichler, Redaktion/CONEDU
Die Vorpremiere des Films "Rosi, Kurt und Koni" über drei Menschen mit Basisbildungsbedarf und anschließende Podiumsdiskussion war ein gelungener Auftakt von "bildung|erwachsen".
Ministerin Gabriele Heinisch-Hosek eröffnete die Veranstaltung
Foto: (C) BKA – Bundespressedienst/Andy Wenzel
Weiche Klappsessel, lange Sitzreihen, Popcorn, ein Getränk und Süßigkeiten - der Auftakt der vom BMBF initiierten Veranstaltungsreihe "bildung|erwachsen" fand in einer besonderen Umgebung und Atmosphäre statt: im Kinosaal der Urania in Wien. Nachdem die etwa 180 Gäste ihre Plätze im Kino  eingenommen hatten, eröffnete Bildungs- und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek die Vorpremiere und Diskussion des Films "Rosi, Kurt und Koni". Eine Dokumentation, die die Geschichten dreier Menschen erzählt, die Probleme beim Lesen und Schreiben haben und den Bildungsprozess wieder aufnehmen.


"Rosi, Kurt und Koni": dramatische Begegnungen
Hanne Lassl gelingt es, in ihrem Dokumentarfilm drei Personen mit ihren Stärken und Schwächen zu porträtieren - ohne sie oder die Film-ZuseherInnen dabei zu belehren. Der Lebensalltag von Rosi, Kurt und Koni schreibt die dramatischen Höhepunkte des Films, als Sebastian, Kurts minderjähriger Sohn dem Vater ein behördliches Gutachten vorliest, in welchem mit äußerst unsensiblen Formulierungen seine Probleme mit Lesen und Schreiben beschrieben werden.

 
Oder als plötzlich Rosis Konto - ohne dass sie es überzogen hätte - gesperrt ist, weil ihre Freundin bei den Behörden eine Sachwalterschaft für Rosi beantragt hat. Es wird bewusst, wie viele Bereiche des Lebens Basisbildungsdefizite betreffen können und wie stark diese die Möglichkeiten zu einem selbstverantworteten Leben beschneiden.  


Als dritter Charakter erzählt Konrad, Koni, von seiner Schulzeit, die er "mehr im Krankenhaus als in der Schule" verbracht hatte. Er war der ständigen Gewalt seiner Bruders ausgesetzt gewesen. Und nach Abschluss der Sonderschule konnte er nach eigener Aussage "gar nichts". "Null". Eine Selbsteinschätzung, die so gar nicht mit der Tatsache zusammenpasst, wie Koni sein Leben meistert.


... aber auch ein wertschätzendes Augenzwinkern und Bewundern
Hanne Lassl und ihre ProtagonistInnen erlauben den ZuseherInnen auch immer wieder zu schmunzeln und manchmal sogar zu lachen. Da argumentiert Rosi, gegen die Sachwalterschaft mit: Sie wolle alle paar Wochen zur Fußpflege und zum Friseur. Dafür werde sie ganz sicher nicht Geld erbetteln. 


Im Laufe des Filmes kommt mehr und mehr das Selbstbewusstsein und die Kraft der drei ProtagonistInnen zum Vorschein und ihr Mut: Koni hat inzwischen seinen Hauptschulabschluss nachgeholt und eine Schlosserlehre begonnen. Rosi hat eine Lesung gehalten und Kurt bittet seinen Sohn, ihm bei der Schreibaufgabe zu helfen.


Besonders zum Denken regt die mündliche Sprache der drei ProtagonistInnen an. Alle drei haben in ihren Dialekten eine sehr differenzierte Sprache und Ausdrucksweise. Sie können sehr eindrucksvoll ihre Gefühle, Gedanken und Sorgen beschreiben. Der Film zeigt also: Nicht Lesen und Schreiben zu können, heißt keineswegs, keine Sprache zu haben oder sich nicht mitteilen zu können. Im März kommenden Jahres läuft der Film in den österreichischen Kinos an.


Angeregte Diskussion
Dem BMBF gelang es, nach der Filmvorführung eine diskussionsfreudige Runde auf das Podium zu holen, um das Thema "Bildungsbenachteiligung" aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten: Hanne Lassl, die Regisseurin des gezeigten Films; Sonja Muckenhuber, die seit vielen Jahren Basisbildungskurse in Linz organisiert und Hanne Lassl bei der Suche nach ProtagonistInnen unterstützt hatte; Rudolf de Cillia, der sich an der Universität Wien dem Thema Sprache, Sprachenpolitik und Soziolinguistik wissenschaftlich nähert; der Soziologe Manfred Krenn, der die Kompetenzen von Bildungsbenachteiligten erforscht und Regina Barth, die Leiterin der Abteilung Erwachsenenbildung im BMBF. Moderiert wurde die Diskussion von Ö1-Moderatorin Ina Zwerger.


Lese- und Schreibdefizite als soziales Problem…
Im Rahmen der Diskussion wurde mehrfach v.a. von Manfred Krenn ein soziologischer Blickwinkel eingebracht, der die Gesellschaft und ihre Gewichtung von Schriftsprache kritisch in den Blick nimmt. Krenn bezog sich auf die Szene mit dem Obsorgerecht-Gutachten. Es sei "schockierend", so Krenn, dass Ämter eine Sprache wählen, die Menschen - auch wenn sie lesen können - vielfach nicht verstehen. Aus seiner Sicht sei es nicht die "Schuld" der betreffenden Person, wenn jemand nicht bzw. schlecht Lesen und Schreiben kann, sondern ein soziales Problem. Basisbildung sei daher nur ein wichtiges Handlungsfeld, um diesem Problem zu begegnen. Zentraler Ansatzpunkt sollte aber die Stärkung von Toleranz der Gesellschaft gegenüber den Betroffenen sein. Denn diese haben andere Kompetenzen. So sind etwa zwei der drei ProtagonistInnen erwerbstätig. Schriftsprachliche Kompetenzen werden nicht immer und überall gebraucht, seien aber in unserer Gesellschaft so dominant, dass es letztlich beschämend sei für die Betroffenen, sie nicht oder nicht ausreichend zu besitzen. "Scham ist das Endprodukt des Prozesses Beschämung", so Krenn. 


… und zugleich als individuelles Problem für die Betroffenen
Gleichzeitig geht es aber um die betroffenen Personen, die sich - ungeachtet ihrer sonstigen Kompetenzen - schämen, weil sie nicht oder nicht ausreichend Lesen und Schreiben können und sich wünschen, das (besser) zu können. Es bedarf ungebrochen an Anlaufstellen, Beratungs- und Bildungsangeboten für die Betroffenen selbst. Sonja Muckenhuber berichtete, dass es oft Jahre an Anlaufzeit brauche, bis sich Betroffene überwinden könnten, ein Basisbildungsangebot in Anspruch zu nehmen. Große Scham, aber auch existentielle Ängste, wenn die Umgebung bzw. der Arbeitgeber davon erfahren würde, seien die Gründe dafür. Je höher die Lese- und Schreibkompetenzen sind, desto schwerer falle es den Menschen, so Muckenhuber, sich ihren Schwächen zu stellen, desto größer die Scham und das Bewusstsein darüber, was sie (noch) nicht können. Scham stellt sie auch bei AbsolventInnen von Basisbildungskursen noch fest.


Anzahl Betroffener - ein zweiter Blick ist nötig
"Eine Million ÖsterreicherInnen weisen eine geringe Lesekompetenz auf." Dieses Ergebnis der PIAAC-Studie, das in den Massenmedien vielfach zitiert wurde, bedürfe eines zweiten, näheren Blickes, so ein Fazit der Podiumsdiskussion. Denn unter dieser Million sind viele Menschen, die sehr wohl lesen und schreiben können, aber beispielsweise Probleme mit der Rechtschreibung haben oder viel Zeit brauchen, um Texte zu verstehen. Die im Film begleiteten ProtagonistInnen sind also nicht prototypisch für eine ganze Million Österreicherinnen und Österreicher. Dennoch bricht der Film mit einem Tabu, indem er den Alltag von Betroffenen offen, unverblümt und stets ohne zu werten, zeigt.

 

Reihe bildung|erwachsen
Die Veranstaltung war der Auftakt der vom BMBF-initiierten Veranstaltungsreihe "bildung|erwachsen". Mit dieser Reihe will das BMBF Raum schaffen für Diskurs und Diskussionen, Austausch und Auseinandersetzung, Nachdenken und Querdenken, Innehalten und Vorwärtskommen. Nach diesem besonderen und diskussionsreichen Auftakt kann also mit Spannung die nächste Veranstaltung dieser Reihe erwartet werden.

Weitere Informationen:

 

Die Veranstaltung wurde aus Mitteln des Erasmus+ Programmes der Europäischen Union gefördert.

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