Neues Buch versammelt persönliche Erlebnisse aus den 1950er Jahren
„So unterschiedlich lebt sich‘s, obwohl es die gleiche Zeit war…“. Der Titel des Ende 2023 erschienenen Buches zitiert einen der Teilnehmenden eines Kurses zu autobiografischem Schreiben und Zeitgeschichte, der am Zentrum für Weiterbildung (ZfW) der Universität Graz stattfand. Aus diesem Kurs sind Erzählungen hervorgegangen, die nun in überarbeiteter Form als Buch erschienen sind. Die Publikation versammelt unterschiedliche biografische Erzählungen über die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts.
Geschichten übers Einkaufen, Kochen und Telefonieren geben Einblick in die 50er Jahre
Im Hauptteil des Buches finden sich elf Beiträge von sieben Kurs-Teilnehmerinnen und zwei Teilnehmern, die überwiegend in der Steiermark, meist am Land und in unterschiedlichen Milieus aufgewachsen sind. Die Geschichten sind in Umfang, Stil und Thematik sehr unterschiedlich. Sie erzählen von der Bewältigung scheinbar banaler, aber lebenswichtiger Alltagsaufgaben wie Einkaufen, Kochen und Heizen, von längst vergessenen Gegenständen im Haushalt oder von Hürden und Hilfen während der Schulzeit. Einblicke gibt es auch in Lebenswelten am Land oder in bürgerlichen Vierteln der Stadt Graz. Sie beschreiben wichtige Lebensereignisse junger Menschen zwischen Anpassung und jugendlichem Aufbruch in den Fünfzigerjahren, einer „Brückenzeit“ (so die Herausgeber) zwischen Wiederaufbau und Wohlstandsgesellschaft.
Die Autorin Maria Mesicek erzählt zum Beispiel von ihrem ersten Arbeitstag im Jahr 1959, an dem sie sich einer Schreibmaschinen-Prüfung stellen musste. Als Leser:in erfährt man in dieser Geschichte, wie Telefonieren in den 50er Jahren funktionierte und dass Techniken wie Stenografieren (das Beherrschen einer spezifischen Schrift, die sehr schnelles Schreiben ermöglicht) sehr gefragt waren.
In individuellen Geschichten das Gemeinsame erkennen
Der Titel des Buches betont die Unterschiede der biografischen Erfahrungen. Gleichzeitig wird beim Lesen aber deutlich, wie viele Gemeinsamkeiten in den Lebensumständen diese Zeit prägten. Viele der damaligen ‚Zustände‘ tauchen in mehreren Lebenserinnerungen auf: kalte Zimmer, knappe Lebensmittel, fehlende oder eingefrorene Wasserleitungen, Sparsamkeit, teilweise autoritärer Umgang mit Kindern in der Schule und im Elternhaus, nicht zuletzt geschlechtsspezifische Bildungswege. Schon das Titelbild des Buches zeigt etwa traditionelle Rollenbilder der damaligen Zeit. Darauf sind ausschließlich junge Burschen zu sehen, die ein Moped umringen.
Von der Kursteilnehmerin zur Autorin
Unter dem Titel „Wie schreibe ich es auf?“ waren Kursteilnehmende eingeladen, sich vor dem Hintergrund der persönlichen Erfahrung und Erinnerung mit den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auseinanderzusetzen.
In Einzel- und Gruppenarbeiten näherten sich die Teilnehmenden ihrem persönlichen Thema. In Kurzvorträgen des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Peter Teibenbacher und des Sozialwissenschaftlers und Erwachsenenbildners Marcus Ludescher erhielten die Teilnehmenden zusätzliche Informationen zum Schreibprozess. Zum Beispiel erfuhren sie Details zum lebensgeschichtlichen Schreiben oder zu Grundprinzipien des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens für eigene kleine Recherchen. Am Ende entstand ein Buch mit elf Beiträgen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kurses.
Impulse für die Erwachsenenbildung
Wer diese unterschiedlichen und doch wieder ähnlichen Lebenserinnerungen liest, kann die prägenden Bedingungen dieser Zeit authentisch und sehr lebendig miterleben. Man wird angeregt, die jeweils eigenen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend mit denen der Autor:innen zu vergleichen. So könnten die Beiträge als Impulse für intergenerationelle Gespräche dienen, um miteinander über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Sie könnten generell zu einem besseren Verständnis der älteren Generationen, aber auch - im Vergleich dazu - zu einem besseren Verständnis der heutigen Lebensbedingungen der jüngeren Generationen anregen.
Insbesondere für Teilnehmende, die bereits auf ein langes Leben zurückblicken können, bietet biografisches Erzählen und Schreiben verschiedene Möglichkeiten, das eigene Leben im Kontext historischer/politischer Ereignisse und sozialer/kultureller Bedingungen zu reflektieren. Das Teilen von Alltagserfahrungen in moderierten Gesprächen kann bei älteren Menschen aktivierend wirken, das Gefühl von Einsamkeit verringern und damit die Lebensqualität verbessern.
Fazit: Gelungene Kombination aus persönlichen Geschichten und fachlichen Ergänzungen
Im beschriebenen Bildungsprojekt legten die Herausgeber Marcus Ludescher und Peter Teibenbacher sowie die Autor:innen den Schwerpunkt auf eine sozialhistorische Sichtweise. Die vielfältigen alltagsgeschichtlichen Erzählungen werden in der Publikation durch zahlreiche fachliche Anmerkungen der Autor:innen und durch ein Glossar ergänzt. Die Erzählungen sind dadurch informativ und noch besser verständlich. Durch die gelungene Kombination von authentischen und sehr individuell erzählten lebensgeschichtlichen Beiträgen und kompetenten Ergänzungen durch die Herausgeber dokumentiert das Buch eine besondere Form des biografischen Arbeitens und leistet einen Beitrag zur Erwachsenenbildung und zur lebendigen Zeitgeschichte.
Bildungsprogramm „Vita activa – Lernen verbindet Generation“ als Rahmen
Den Rahmen der damaligen Veranstaltung bildete das Bildungsprogramm „Vita activa – Lernen verbindet Generationen“, das sich an Menschen aller Altersgruppen, insbesondere aber an Interessierte in der zweiten Lebenshälfte richtet. Ziel der unterschiedlichen Bildungsangebote zur wissenschaftlich fundierten Weiterbildung ist – so heißt es in der Einleitung des Buches – neben der Förderung des gemeinsamen Lernens auch die Stärkung der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Mitgestaltung. Die Angebote reichen dabei von Vorträgen und Vortragsreihen über Führungen und Workshops bis hin zu Arbeitskreisen und anderen Formaten. Auch die Themen sind breit gefächert.
Das Buch: Ludescher, Marcus/Teibenbacher, Peter (2023): „So unterschiedlich lebt sich’s, obwohl es die gleiche Zeit war…“ Die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts in der persönlichen Erinnerung. Graz: Unipress. 167 Seiten. 22,50 Euro. 978-3-903484-01-6
Über die Autorin der Buchvorstellung: Getrurd Simon war als Forschende und Lehrende für Erziehungs- und Bildungswissenschaften und als Erwachsenenbildnerin tätig. Gegenwärtig publiziert sie zu Lebenssituationen und Bildung im Alter.
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