Kurztagung Gemeinwesenarbeit 2022. Eine Nachlese

21.11.2022, Text: Ondrej Lastovka, Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb)
"Raum (zurück)gewinnen für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft" lautete der Titel der Tagung. Den Raum auch bei der Tagung zu bieten, blieb angesichts des neuen Veranstaltungsformats eine Herausforderung.
Eine Frau hält eine digitale PowerPoint-Präsentation
21.10.2022 - GWA-Kurztagung: Projektvorstellung von Digital Village
Foto: Alle Rechte vorbehalten, GWA-Team; Gerda Daniel, auf erwachsenenbildung.at

Genese des neuen Kurztagungsformats

Nachbarschaft als Ressource zu nutzen – dieses Plädoyer zog sich durch die ganze Kurztagung "Raum (zurück)gewinnen für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft" als roter Faden durch. Doch dem Wunsch nach mehr Raum für weiterführende Gespräche und informellen Austausch konnte das neue Kurztagungsformat nicht nachgehen.

 

Ein besonderes Format der regelmäßig im Herbst am bifeb stattfindenden Tagung der Gemeinwesenarbeit (GWA) in Österreich, wie der Titel erahnen lässt, resultiert aus einer Ausnahmesituation und der Kreativität des Tagungsteams. Das Tagungsthema "Raum (zurück)gewinnen für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft" der ursprünglich dreitägigen Tagungsveranstaltung blieb, und unter den gegebenen Umständen wurde der Fokus nur auf einen Teilaspekt der Gestaltung eines für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft Zukunftsraums gesetzt.

 

Das Bundestinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) als traditioneller Veranstaltungsort der GWA-Tagungen hat im heurigen Herbst (2022), wie viele andere dem BMBWF zugehörige Bildungsinstitutionen, seine Unterbringungskapazitäten den in Österreich Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt. Dadurch war die für den 19. bis 21. Oktober 2022 angesetzte Tagung zu verschieben, in den digitalen Raum zu verlagern oder abzusagen. Alle Optionen bereiteten dem Tagungsteam eine Herausforderung, sodass in der Umgestaltungsphase der Tagung ein für die Gemeinwesenarbeit bisher untypisches Format, nämlich mehrere Kurztagungen unter einem Dachthema zeitlich und räumlich verstreut, angepeilt wurde. Der Standort der Volkshochschule Linz wurde für die erste, am 21. Oktober 2022 durchgeführten GWA-Kurztagung, der angedachten Reihe ausgewählt.

Tagungsthema und -fragestellungen 2022: Raum (zurück)gewinnen für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft

Die Jahre der Pandemie und der sie begleitenden Einschränkungen veränderten gewohnte Muster und Praktiken der Raumnutzung nachhaltig. Aufenthaltsbegrenzungen und Abstandsregeln hatten Einfluss auf die Nutzung öffentlicher Räume und in den Wohnungen mussten viele Aufgaben bewältigt werden, für die in vielen Fällen eigentlich kein Platz war. Außerdem wirkt die zunehmende Verschränkung von virtuellem und realem Raum ambivalent: Sie eröffnet neue Möglichkeiten, birgt aber auch Risiken, insbesondere durch die Normalisierung von Kontrolle und Restriktionen.

 

Das Verhältnis zwischen öffentlichen, privaten und digitalen Räumen hat sich nachhaltig verändert. Der Staat wandelte dabei sein Bild zwischen einem aktiven, unterstützenden und autoritären Gesicht. Die Zivilgesellschaft verlor Räume, Möglichkeiten sich zu organisieren oder musste sich umorientieren und Aktivitäten in digitale Räume verlagern. Dahingegen entstanden auch neue soziale Bewegungen. Die Bewegung der Coronaskeptiker*innen entdeckte die Straße als Protestraum, war aber durchsetzt von rechtsextremen und patriarchalen – also antiemanzipatorischen Ideen. Antirassistische, feministische sowie queere Bewegungen versuchten die Straße ebenso wieder zurückzuerobern, genauso wie die Klimabewegung.

 

Welche Räume aber benötigen wir für eine solidarische emanzipatorische Gesellschaft, in denen Diskurse und Aushandlungen stattfinden? Welche Räume brauchen Erwachsenenbildung, Gemeinwesenarbeit, Kulturarbeit und soziale Bewegungen? Was lernen wir dabei aus der Pandemie? Welche Bedeutung haben physische Räume für emanzipatorische Kollektivierungs- und Bildungsprozesse? Welche neuen Räume können entwickelt oder zurückgewonnen werden?

 

Nachbarschaft als Ressource. Kurztagung im Detail

Bei der diesjährigen Tagung standen diese Fragen im Mittelpunkt, insbesondere mit Blick auf die Raumbedarfe von marginalisierten Gruppen, die über wenig Privatsphäre verfügen und auf den öffentlichen Raum angewiesen sind.

 

Hauptvortragende Ursula Spannberger (raumwert.cc) stimmte die ca. 40 Tagungsteilnehmer*innen über ihren täglichen Arbeitsweg durch den öffentlichen Raum auf das Konzept der Raumwertanalyse ein. Im interaktiven Vortrag verdeutlichte Ursula Spannberger nicht nur den Wandel des (öffentlichen) Raums in der Zeit, sondern auch die Notwendigkeit der Raummitgestaltung aller sie nutzenden Menschen sowie Berücksichtigung ihrer Werte und Lebenskonzepte. Sog. Frankfurter Küche wurde als Beispiel des gelebten Beteiligungskonzepts der auf die Bedürfnisse ihrer Nutzenden zugeschnittene Räumlichkeit mehrmals erwähnt.

 

Nach einer Mittagspause standen Präsentationen und Diskussion der zum Tagungsthema passenden Projekte und Initiativen im Mittelpunkt. In einer Kleingruppe wurden die Projekte "Digital Village" (vertreten durch Vanessa Kinz) sowie "a-ZONE" (präsentiert von Zdravko Haderlap) vor dem Hintergrund des Tagungsthemas vorgestellt. In der anderen Kleingruppe standen schau.RÄUME (vorgestellt im Tandem von Rosalia Kopeinig, Psychologin, Biographiearbeit bei schau.Räume und Barbara Ambrusch-Rapp, Multimediakünstlerin) und Stadtteilarbeit (repräsentiert durch Katharina Kirsch-Soriano da Silva) im Rampenlicht.

 

Physische Räume sollen durch partizipative Prozesse von Menschen für Menschen funktional, durchdacht und sinnvoll gestaltet werden, sodass sich die Nutzenden darin wohlfühlen. Dafür bietet sich Nachbarschaft als wichtige Ressource an, wobei das Vertrauen und Kontinuität in den Beziehungen als essenzielle Voraussetzungen fürs Schaffen von sozialen Räumen bis hin zu Denkräumen zu verstehen sind. Das sind einige Erkenntnisse aus dieser Kurztagung.

Kurztagung - Ein Rundumblick

Im abschließenden Plenum wurden Antworten auf die Tagungsfragen gesucht, wobei auch die alltäglichen Herausforderungen der Tagungsgäste zum Vorschein kamen. Eine Fortführung der für dieses Jahr angepeilten Kurztagungsreihe wurde vom Publikum nicht ausdrücklich angefragt. Auch aufgrund der notwendigen Räume für weiterführenden Austausch sowie für informelle Gespräche, die die Gemeinwesenarbeit braucht, bleibt es beim über Jahre bewährten Drei-Tages-Tagungsformat. Die Tagung der Gemeinwesenarbeit (GWA) findet im Kalenderjahr 2023 planmäßig wieder in St. Wolfgang am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung von 4. bis 6. Oktober 2023 statt.

Zur Geschichte der Gemeinwesenarbeit am bifeb

Die Werkstätte Gemeinwesenarbeit (GWA) am bifeb existiert bereits seit 40 Jahren: Der Ring Österreichischer Bildungswerke brachte ihr damaliges Reformprojekt der gemeindebezogenen Erwachsenenbildung (EB) am bifeb ein. 1979 startete ein Team aus Vertreter*innen des bifeb (u. a. August Pöhn) und des Rings (u. a. Hannelore Blaschek) die Werkstätte Gemeinwesenarbeit (GWA). Dieses Team erweiterte sich bald um Aktivist*innen aus der Gemeinde- und Regionalentwicklung (u. a. Anton Rohrmoser), in der Folge um weitere Vertreter*innen aus EB-Organisationen und der Sozialen Arbeit.

 

Ab 1979 etablierte sich die GWA in jährlichen Tagungen mit über 200 Projekten als Impulsgeberin des bildungs-, sozial- und kulturpolitischen Handelns in der gesellschaftskritischen EB-Praxis. So war die GWA in der EB etwa Pionierin bei der Einführung aktivierender Methoden wie Zukunftswerkstätten. In der Folge setzten sich Prinzipien und Methoden der GWA in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Programmen und Projekten - zum Beispiel in Form von Bürger*innenbeteiligung, Raumplanung, Integrationsmaßnahmen - durch.

 

Die GWA versteht sich als freie Arbeit am Gemeinwesen, auch im Verständnis einer "befreienden Praxis" im Sinne Paolo Freires. Hauptziel ist dabei, Probleme von Bürger*innen oder Minderheiten in Gemeinden oder Stadtteilen als gesellschaftliche Probleme zu erkennen, zu analysieren und zu lösen. Handlungsanleitend sind hierfür Bildung im Gemeinwesen sowie solidarische und demokratische Grundwerte.

GWA-Steuerungsgruppe - aktuell

2021 konstituierte sich die GWA-Steuerungsgruppe neu und besteht heute aus acht Vertreter*innen von EB-Organisationen und einem Vertreter der Sozialen Arbeit: Wolfgang Kellner (Ring Österreichischer Bildungswerke), Stefan Vater (Verband Österreichischer Volkshochschulen), Gerda Daniel (Arge-Region Kultur), Rahel Baumgartner (Österreichische Gesellschaft für Politische Bildung), Christoph Stoik (FH Campus Wien, Soziale Arbeit), Simon Andreas Güntner (TU Wien, Raumsoziologie) und Ondrej Lastovka (bifeb, Karenzvertretung von Cornelia Primschitz)

2022 Tagungsprojekte - Ein Überblick

DIGITAL VILLAGE

Unter dem Motto "Sicher in die digitale Welt!" veranstaltet die VHS Digi-Infotage in Gemeindebauten in ganz Wien. Bewohner*innen und Anrainer*innen können sich von "Digi-Experts" beraten lassen und ihre Fragen zu Anwendungen auf Smartphone, Tablet oder Laptop werden beantwortet. Die Digi-Infotage finden im Rahmen des Projektes "Digital Village" statt, das aus den Mitteln der AK Wien gefördert und in Kooperation mit wohnpartner durchgeführt wird.

 

Institution
VHS Wien

 

Vertreterin
Angelika Hrubesch, MAS
Vanessa Kinz

A-ZONE

Die "a-ZONE" versteht sich als Kunst- & Kulturraum sowie als Forschungs- und Bildungsraum, in dem vor allem das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und zur Geschichte der grenzüberschreitenden Region der Ostkarawanken kritisch betrachtet und beleuchtet werden kann. Weiterführende Information: haderlap.at oder landschaftlesen.net

 

Institution
a-ZONE / Vinklnova domačija

 

Vertreter
Zdravko Haderlap

SCHAU.RÄUME

schau.Räume ist ein interdisziplinäres Performanceformat, das seit 2011 existiert und in leerstehenden Geschäftsräumen tabuisierte und marginalisierte soziale Themen performativ umsetzt. Dies schließt einen interventionistischen und partizipativen Ansatz mit ein. Die Themen werden also nicht nur interimistisch durch Performance im öffentlichen Raum dargestellt, sondern auch durch den partizipativen Ansatz im Sinne von "mitreden", "mitmachen", "mitentscheiden" gestaltet. Dafür werden für die einzelnen Interventionen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen aber auch NGO‘s und Privatpersonen miteinbezogen, die sich aktuell mit der ausgewählten lebensrelevanten Thematik, die gezeigt werden soll, beschäftigen. Ziel des Projekts ist es Begegnungsräume zu schaffen, die im ästhetischen Kontext zum Kunstwerk selbst werden.
Das Format schau.Räume forscht mittels künstlerischer Forschung und Biographiearbeit.


Institution
schau.RÄUME

 

Vertreter
Rosalia Kopeinig, Psychologin, Biographiearbeit bei schau.Räume
Barbara Ambrusch-Rapp, Multimediakünstlerin

STADTTEILARBEIT, CARITAS DER ERZDIÖZESE WIEN - HILFE IN NOT

Gemeinschaftlich nutzbare Räume sind wertvolle Ressourcen in Wohnquartieren. Sie erweitern den privaten Wohnraum, was bei kleinen oder dicht belegten Wohnungen besonders wichtig ist. Sie bieten Möglichkeiten, eigene Ideen und Initiativen - in und mit der Nachbarschaft - zu realisieren. Sie stehen aber mitunter auch im Spannungsfeld verschiedener Interessen und können Kristallisationspunkte für Nutzungskonflikte sein. Die Caritas Stadtteilarbeit begleitet die Aneignung und Nutzung von Gemeinschaftsräumen in Wohnquartieren und hat in verschiedenen Quartieren - auch angesichts der Corona Pandemie - unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

 

Institution
Stadtteilarbeit, Caritas der Erzdiözese Wien - Hilfe in Not

 

Vertreterin
Katharina Kirsch-Soriano da Silva

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