Bedarfe in der Bildungsberatung von Menschen mit Lernschwierigkeiten

21.04.2021, Text: Karin Steiner, Agnes Dürr und Mario Taschwer abif - analyse. beratung. interdisziplinäre forschung., Redaktion: Amela Cetin, ÖSB Social Innovation
Eine Studie zeigt: BeraterInnen sehen gesellschaftliche und arbeitsmarktpolitische Hürden und plädieren für den Ausbau einer niederschwelligen Angebotslandschaft und die Öffnung des Arbeitsmarktes.
Es braucht auch Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in den Betrieben, so die Befragten.
Grafik: Alle Rechte vorbehalten, Jörg Schiemann, https://trueffelpix.com/
Was ist der Status Quo in der Beratung von Personen mit Lernschwierigkeiten und welche
Veränderungen braucht es, um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern? Das sind Fragen einer aktuellen Studie des Forschungsinstituts abif, die im Auftrag des Arbeitsmarktservice Österreich durchgeführt wird. Neben einer Daten- und Literaturanalyse hat abif Bildungs- und BerufsberaterInnen interviewt und eine Online-Umfrage mit Personen aus der Beratungspraxis (u.a. BeraterInnen, Management, Verwaltung) durchgeführt.

Über die Zielgruppe oder "Wer ist gemeint?"

"Menschen mit Lernschwierigkeiten" ist der selbstgewählte Begriff der Selbstvertretungsbewegung (People-First-Bewegung) und meint Personen, die zuvor als "Menschen mit geistiger/kognitiver Behinderung" oder "Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung" beschrieben wurden. Er ist abzugrenzen von einer Lernschwäche im pädagogischen Sinne. Während in den von abif durchgeführten Erhebungen die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten untersucht wird, wenden sich Beratungsangebote meist allgemein an "Menschen mit Behinderung" und meinen Menschen mit Lernschwierigkeiten mit. Sofern in diesem Artikel die Rede von Menschen mit Behinderung ist, werden mitunter auch Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeint.

Status Quo: Bestehende Beratungsangebote für KundInnen mit Behinderung

Während Mainstreaming-Angebote (allgemeine Beratungsangebote) keine Zielgruppen definieren, richten sich spezialisierte Angebote dezidiert an Personen mit Behinderung bzw. Personen mit Lernschwierigkeiten. Solch eine Spezialisierung führt zu einer Kategorisierung, die dem Inklusionsgedanken im Wege steht, doch "... manchmal macht es Sinn und ist es notwendig, dass es spezifische Angebote gibt. Jemanden irgendwo hineinzusetzen und zu sagen, das ist jetzt Inklusion, obwohl die Person dem Angebot nicht folgen kann, das ist nie Inklusion, das ist ganz schlimm. Da, wo es notwendig ist, soll es spezielle Angebote geben, das Ziel muss aber immer die Inklusion sein." (Interview ExpertIn)

 

Daher empfehlen befragte ExpertInnen: Es sei individuell zu entscheiden, welches Angebot passend ist. BeratungskundInnen mit Behinderung dürfen nicht automatisch auf ein spezifisches Angebot verwiesen werden, sondern sollten in einem ersten Schritt in Mainstreaming Angeboten gehört werden und bei Bedarf auf zusätzliche, spezialisierte Angebote verwiesen werden. Solch ein spezialisiertes Angebot ist beispielsweise das Jugendcoaching WUK faktor.c das behinderte und benachteiligte Jugendliche bis zum 24. Lebensjahr berät.

Empowerment der Zielgruppe soll durch den Ausbau der Peer-Beratung unterstützt werden

Laut den Befragten ist es zusätzlich wünschenswert, dass künftig in jeder Beratungseinrichtung, in der Menschen mit Behinderung beraten werden, BeraterInnen mit Behinderung tätig sind. 67% der Teilnehmenden der Online-Erhebung sehen einen Bedarf an Peer-BeraterInnen. Das Potenzial von Peer-Beratung liegt in der Kombination von professioneller Ausbildung, behinderungsspezifischem Erfahrungswissen und der Einnahme einer Vorbildfunktion, denn Peer-BeraterInnen treten als Role-Models auf und unterstützen damit das Empowerment der KundInnen.

 

Peer-Beratung für und durch Personen mit Lernschwierigkeiten wird in Österreich beispielsweise bei wibs Tirol umgesetzt. Hier arbeiten BeraterInnen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit UnterstützerInnen und bieten unter anderem Einzel- und Gruppenberatungen, sowie Vorträge und Kurse an.

Zu bewältigende Herausforderungen für die Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes

Die wohl bedeutendste Herausforderung für die BeraterInnen stellt die diskriminierende Situation am Arbeitsmarkt dar. Laut den Befragten ist die Angebotslandschaft sehr beschränkt und es gibt wenige Vermittlungsangebote. Diese Lücke gilt es insbesondere für Angebote am Übergang Schule-Beruf zu schließen. Hier braucht es niederschwellige Möglichkeiten zum Ausprobieren und Sich-Orientieren.

 

Mit dieser Herausforderung geht die Forderung nach einer längst notwendigen Öffnung des Arbeitsmarktes für Personen mit Behinderung, sowie nach einer radikalen Änderung im gesellschaftlichen Verständnis von Behinderung allgemein einher. Dazu braucht es vor allem Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit aber auch gesetzliche Rahmenbedingungen, um das Ziel eines inklusiven Arbeitsmarktes bzw. einer inklusiven Gesellschaft zu erreichen. "Die Herausforderung ist es im Endeffekt zu schauen, wie das ganze Thema inklusiv funktionieren kann. Inklusion ist natürlich das Ziel." (Interview ExpertIn)

 

Diese Notwendigkeit betonen die befragten BeraterInnen vor dem Hintergrund einer künftig wachsenden Bedeutung der Zielgruppe und sehen zusätzlich einen Trend im Anwachsen der Personengruppe mit multiplen (sozialen) Benachteiligungen. So werden etwa psychisch erkrankte Personen mit Behinderung und MigrantInnen mit Behinderung als Zielgruppen an Bedeutung gewinnen.

Veränderungsbedarf: Ausgewählte praktische Empfehlungen aus der Datengrundlage

Das Thema Selbstermächtigung erachten die befragten BeraterInnen und ExpertInnen für die Beratung von KundInnen mit Lernschwierigkeiten als zentral. Um die Zielgruppe direkt ansprechen zu können, braucht es (Informations-)Materialien in Leichter Sprache. Denn nur diese richten sich direkt an die Zielgruppe und tragen zu ihrem Empowerment bei.

 

Um das Potenzial der Peer-Beratung nutzbar zu machen, braucht es einen Ausbau genau dieser Beratungsform. Peer-Beratung ist österreichweit noch wenig verankert – die Notwendigkeit von institutionalisierter Peer-Beratung wurde von den BefragungsteilnehmerInnen jedoch fortwährend betont.

 

Während bei den ArbeitgeberInnen oft Berührungsängste und Vorbehalte dominieren, rücken Möglichkeiten und Chancen in den Hintergrund. Um das weit verbreitet Unwissen zum Thema Arbeit und Behinderung aufzulösen, braucht es Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit. Aufklärungsarbeit ist nicht nur in Hinblick auf stereotype Bilder von ArbeitnehmerInnen mit Behinderung notwendig, sondern betrifft auch Informationen zu möglichen Unterstützungen und Förderungen.

Welche Rolle schreiben sich die befragten BeraterInnen vor dem Hintergrund dieses Veränderungsbedarfs zu? Sie arbeiten weiter daran, als Sprachrohr für die Zielgruppe zu agieren, Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten, das Thema Inklusion fortwährend in die Öffentlichkeit zu tragen und "(...) Grenzen zu sprengen, die vermeintlich da sind." (Interview ExpertIn)

Studiendesign

Im Auftrag des Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) erhebt abif – analyse, beratung, interdisziplinäre forschung Trends und Bedarfe in der Bildungs- und Berufsberatung von KundInnen mit Lernschwierigkeiten. Es sollen Empfehlungen für die Praxis und vor allem Wünsche und Veränderungsvorschläge zur Optimierung des AMS-Angebots herausgearbeitet werden. Durchgeführt wurde dazu eine Daten- und Literaturanalyse, 14 leitfadengestützte Interviews mit Bildungs- und BerufsberaterInnen, sowie ein Online-Survey mit 99 TeilnehmerInnen aus der Beratungspraxis und dem Management der Bildungs- und Berufsberatung.

 

Weiterführende Studienergebnisse werden im Mai 2021 auf der Plattform des AMS-Forschungsnetzwerks unter "AMS Publikationen - Forschung" veröffentlicht.

 

 

Über die Autorinnen: Karin Steiner ist Soziologin, Kommunikationstrainerin, diplomierte Erwachsenenbildnerin und Evaluatorin. Seit dem Jahr 2000 ist sie Geschäftsführerin bei abif und hat das Forschungsprojekt geleitet. Agnes Dürr studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien. Sie ist seit 2018 als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin bei abif tätig und war im Rahmen der Studie für die Literaturanalyse, sowie für die qualitative Erhebung und deren Auswertung zuständig. Mario Taschwer ist Wirtschafts- und Sozialwissenschafter und war bis 2020 als wissenschaftlicher Projektmitarbeiter bei abif tätig. Im Rahmen der Studie war er für die qualitative und quantitative Erhebung als auch die Datenauswertung zuständig.

Weitere Informationen:

Erstellung des Beitrags gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung und des Europäischen Sozialfonds.

 
 
 
 
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