Musische Bildung in Zeiten von Corona

09.09.2020, Text: Alexander Greiner (d’accord wien), Judith Mantler (Basis.Kultur.Wien), Redaktion: Judith Mantler, Basis.Kultur.Wien - Volksbildungswerk/Ring ÖBW
Gemeinsames Singen gilt als Risiko für eine Ansteckung mit dem Corona-Virus. Wie man Gesangsbildung trotzdem verantwortungsvoll gestalten kann, zeigt der Chor d’accord wien.
Gesangsbildung im Freien ist in Corona-Zeiten das Mittel der Wahl.
Foto: Alle Rechte vorbehalten, Bernadette Strobl, auf erwachsenenbildung.at
Karotten und Brokkoli köcheln in Kokosmilch, der Duft von Kurkuma, Zimt und Koriander steigt auf. Mitte März fühlt sich Bernadette einsam in ihrer Wohnung. Weil ihr Chor nicht proben darf und das soziale Leben erstarrt ist, kocht sie Thai-Curry für FreundInnen aus der Nachbarschaft.
Kurz nach dem Lockdown schöpft sie aber nicht nur aus Selbstgekochtem Kraft, sondern auch durch Singen. "Ich war motiviert, Stücke zu üben und Texte auswendig zu lernen", erzählt die Sopranistin, die beim Chor d'accord wien singt. "Es tut gut, den Stimmapparat in Schwung zu halten."

Gemeinsames Singen zwischen Chance und Risiko

Neben der musikalischen und gesundheitsfördernden Dimension betrifft die Pandemie vor allem die soziale Dimension des Chorsingens. Das Zusammengehörigkeitsgefühl im Chor durch die koordinierte Aktivität und gemeinsame Auftritte führt zum Aufbau eines Netzwerkes, neuen Freundschaften und dem Gefühl, einen Beitrag für die größere Gemeinschaft zu leisten, erzählen TeilnehmerInnen. Das Singen schafft zudem emotionale Erleichterung und führt zu einem Abbau von Stress, wie auch Studien zeigen. In Zeiten wie diesen wichtige Eckpfeiler im Alltag.

 

Gemeinsames Singen wird nun aber als mitverantwortlich für die rasche Ausbreitung des Virus gesehen. Das ist nicht nur für die professionelle Kulturszene ein Schlag, sondern auch für Laien. Für manche SängerInnen in Hobbychören stellt die Chorprobe das einzige Highlight ihrer Woche dar. Die Chorleitenden sind sich dieser Verantwortung bewusst, die rechtlichen Rahmenbedingungen und vor allem Sorge um die Gesundheit der TeilnehmerInnen lassen aber keinen Spielraum.

 

In einer Beurteilung der Ansteckungsgefahr mit SARS-CoV-2-Viren beim Singen, veröffentlicht von der Klinik für Audiologie und Phoniatrie an der Charité Universitätsmedizin Berlin, schreiben Prof. Dr. Dirk Mürbe und seine Co-AutorInnen, dass gemeinsames Singen als kritisch zu beurteilen sei. "Eine Reduktion von Tröpfchen und Aerosolen durch Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes wäre prinzipiell möglich", heißt es dort. "Trotz geringer akustischer Konsequenzen ist aber die Praktikabilität im künstlerischen Kontext fraglich." Eine Herausforderung für die Gesangsbildung.

Gesangsbildung online

Wie man die Gesangsbildung auch während der Krise aufrechterhalten kann, zeigt Katja Kalmar, Chorleiterin von d'accord wien. Sie entscheidet, "eine gewisse Struktur aufrecht zu erhalten". Innerhalb der ersten Lockdown-Woche startete sie Proben über das Internet. "Es ist zumindest einen Versuch wert, so zu arbeiten und zu schauen, was dabei herauskommt."

 

Der Ablauf ist jenem physischer Proben ähnlich: Nach dem Eintreffen wird der Körper aufgewärmt und gedehnt, gefolgt vom Einsingen und dem Üben der Stücke. Auf ihrem Bildschirm flimmern die Videos von bis zu 40 SängerInnen. Sie begleitet am Klavier und singt Sopran- oder Alt-Stimme dazu. Die Mikrofone aller anderen schaltet sie stumm.
Bernadette ist froh, dass die Gemeinschaft "so nahtlos einen Weg gefunden hat, weiter zu proben". Es ist eine Stütze für sie, sich "weiterhin als Teil des Chores zu erleben".

 

Zwei Mal pro Woche bietet Kalmar internetbasierte Proben an. "Singen kann die Motivation an einer bewussten Lebensführung in Zeiten des Lockdowns längerfristig steigern." Sie ermuntert die SängerInnen, am Lernplan dranzubleiben – was letztlich Früchte trägt. "Wir haben innerhalb der virtuellen Proben zwei neue Stücke gelernt", zeigt sich die Gesangspädagogin begeistert.
Das größte Problem ist aber, den Chorklang nicht zu hören und kein konkretes Feedback geben zu können. "Mit der Zeit wusste ich nicht mehr, was ich machen soll. Immer nur Durchsingen ergibt auf Dauer keinen Sinn." Um technisch zu arbeiten, muss sie den Chor hören. Daher musste zusätzlich eine weitere Lösung her.

Freiluftsingen

Besonders geeignet erscheine das Singen im Freien, zeigen sich Prof. Dr. Claudia Spahn und Prof Dr. Bernhard Richter vom Freiburger Institut für Musikermedizin überzeugt. In ihrer "Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik" schreiben sie, dass die Gefahr einer Ansteckung "bei Einhaltung des Mindestabstands" im Freien "als sehr gering einzuschätzen" sei. "Für das Musizieren mit mehreren Personen ist deshalb die Open-Air-Situation die erste Wahl."
Mitte Mai, nach zwei Monaten distanziertem Chorsingen, wird der rechtliche Rahmen gelockert: Bei Einhaltung der Abstandsregeln sind im Freien Treffen mit bis zu zehn Personen erlaubt. "Man kann sich in solchen Zeiten kleine Ziele setzen, wie Stücke auswendig zu lernen oder kurze Passagen technisch richtig zu üben", sagt Chorleiterin Katja Kalmar und holt die SängerInnen in Kleingruppen unter offenem Himmel zusammen, denn "Chorsingen ist ein Teamsport. Wir haben die virtuellen Proben genutzt, um Töne und Texte zu festigen, aber es braucht Dynamik, Lautstärke, Phrasierung, Tonfarbe und mehr, um das Publikum zu begeistern." Deshalb wurde das Online-Singen durch das Freiluftsingen ersetzt, um wieder musikalisch arbeiten zu können.

Ausblick

Katja Kalmar, die Leitung des Chor d'accord wien, gibt auf die Frage hin, welche Auswirkungen Corona zukünftig auf die Proben des Chores haben wird, folgendes Statement ab: "Ich denke, dass der Chor auch aus der Coronazeit gesanglich etwas mitnehmen wird können. Sollten bei uns die Proben wieder starten, werde ich als Chorleiterin diese genauso fortführen wie bisher, mit den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen natürlich. Ein großes Thema wird hier das Abstandhalten sein. Das wird voraussichtlich für alle Choristen eine große Herausforderung, denn sie sind gewöhnt sich gegenseitig gut zu hören und sich stimmlich aufeinander verlassen/stützen zu können. Wenn dieser Aspekt wegfällt, wird in der kommenden Zeit jede/r lernen müssen, sich unabhängig von einem/einer stützenden NachbarIn zu trauen und mit der Zeit lernen, sich auf seine Stimme verlassen zu können. Ich denke, dass die Coronazeit nicht mehr oder weniger Output bringen wir, was den rein technischen Aspekt des Singens betrifft, sehr wohl aber den Persönlichen."

 

Der Chor d'accord wien, gegründet 2012 und seither geleitet von Katja Kalmar, erarbeitet für das Programm 2020/21 ausschließlich von Frauen komponierte Stücke aus dem Mittelalter, der Renaissance, der Romantik und dem Barock, bis hin zu zeitgenössischer Musik und vokaler Performancekunst.

 
 
 
Weitere Informationen:
 
 
 
Creative Commons License Dieser Text ist unter CC BY 4.0 International lizenziert.

Verwandte Artikel