Ermutigen und befähigen
„Purzelbaum“ ist nicht nur der Name eines Bewegungsablaufes, sondern auch die Bezeichnung für eine Eltern-Kind-Gruppe. In Vorarlberg ging die Entwicklung der Purzelbaumgruppen in den vergangenen Jahren hin zu mehrsprachigen bzw. türkischsprachigen Gruppen. Die Erfahrungen waren gut, es funktionierte. Im Herbst 2013 fragte die Caritas-Flüchtlingsbetreuung bei der Elternbildung des Katholischen Bildungswerkes Vorarlberg nach einer Begleitung für Familien im Haus „Gaisbühel“. Das ehemalige Personalhaus eines Krankenhauses steht schon seit zehn Jahren als Unterkunft für Flüchtlinge zur Verfügung. Nach intensiven Gesprächen und einem Workshop mit den Familien fiel der Entschluss, eine Purzelbaum Eltern-Kind-Gruppe mit Flüchtlingen zu initiieren. Die Caritas unterstützte organisatorisch, das Land Vorarlberg finanziell, über das Projekt „Kinder in die Mitte“.
Wenn die Gruppenleiterin tschetschenisch spricht
Glücklicherweise absolvierten damals gerade drei Frauen aus Tschetschenien bzw. Dagestan den Ausbildungslehrgang zur Purzelbaum Gruppenleiterin. Als Cornelia Huber, die Hauptverantwortliche für die Purzelbaumgruppen seitens des Bildungswerkes, im Frühjahr 2014 mit dem Projekt startete, holte sie sich dafür Roza Mjagtschieva an die Seite. Die Tschetschenin spricht neben ihrer Muttersprache auch russisch und konnte so bei Bedarf übersetzen und zudem in ihre Arbeit als Gruppenleiterin gut hineinwachsen. Seit Herbst 2015 leitet sie zwei Purzelbaumgruppen mit Flüchtlingen: jene in Gaisbühel mit Jeannette Bobos, eine zweite in Feldkirch mit Bachu Alieva, einer Purzelbaum Gruppenleiterin aus Dagestan.
Mut, zu reden
„In der Arbeit mit den Flüchtlingsgruppen ist manches anders“, erzählt Jeannette Bobos, langjährige Purzelbaum Gruppenleiterin. „Wir reden manchmal über Themen, die für andere keine sind. Abfalltrennung zum Beispiel, Pünktlichkeit oder Ausflugsziele.“ Größte Hürde ist natürlich die Sprache. Sie muss einfach gehalten werden, auch in Bezug auf Lieder und Reime. „Ein bisschen sind wir auch eine Art Deutschkurs“, erklärt die engagierte Gruppenleiterin. Die Ermutigung zum Reden in der deutschen Sprache ist wohl das, was die Frauen am meisten brauchen. Viele von ihnen sind sehr zurückhaltend und schüchtern. Sie haben Angst zu reden.
„Bescheid, Bescheid“
Überhaupt ist Angst jenes Grundgefühl, das viele Flüchtlinge bestimmt. Die traumatischen Ereignisse in ihrem Heimatland, die Erlebnisse auf der Flucht, das Verlieren von Hab und Gut und vertrauten Menschen, das Ankommen in einem fremden Land, in dem sie die Sprache nicht verstehen - damit sind die meisten völlig überfordert. Hier bleibt lediglich noch Energie für die eigenen Kinder, alles andere liegt brach. „Die Frauen sind oft gestresst“, erzählt Bachu Alieva, „sie haben überhaupt keine Zeit für sich selbst. Und in ihrem Kopf geht es immer nur um ‚Bescheid, Bescheid‘.“ Die Angst vor der Abschiebung ist groß und nimmt ihnen das Zutrauen. „Die Frauen denken, dass alles schwierig ist“, beschreibt Roza Mjagtschieva, die selbst einmal in dieser Situation gesteckt hat. „Dabei ist vieles ganz leicht.“
Familien wie wir
Die Purzelbaumgruppen holen die Frauen aus ihrer Enge heraus. Zumindest für zwei Stunden in der Woche. Die Freundschaften, die hier entstehen, sind Gold wert. Die Gruppenleiterinnen sind zudem zu wichtigen Ansprechpersonen geworden – auch außerhalb der Treffen. „Es kommt sogar vor, dass Flüchtlingsfamilien bei uns zuhause zu Besuch sind“, erzählt Jeannette. „Durch den direkten Kontakt hat sich das Bild, das ich von Flüchtlingen hatte, völlig verändert. Mir wurde klar: das sind Familien wie wir. Alle Klischees sind nun weg.“
Brachliegende Ausbildung
Was außerdem typisch für die Situation der Flüchtlinge ist, ist das Brachliegen ihrer beruflichen Kompetenzen. Das trifft auch auf die beiden Purzelbaum Gruppenleiterinnen zu. Roza Mjagtschieva ist Volksschullehrerin, Bachu Alieva Kinderpsychologin. Als sie vor elf bzw. acht Jahren mit ihren Kindern als Flüchtlinge hierher kamen, war ihre berufliche Karriere kein Thema. Heute schon. Nur das Finden einer angemessenen Arbeit ist äußert schwierig. „Wenn ich nach elf Jahren Schule und fünf Jahren Studium putzen gehen muss, dann tut mir das weh“, erklärt Bachu Alieva. Was den beiden vor allem fehlt, sind entsprechende Deutschkenntnisse. Ihr Basiswissen reicht nicht aus für qualifizierte Jobs, für vertiefende Deutschkurse aber bleibt bei der Mindestsicherung nichts übrig.
Sprungbrett ins Arbeitsleben
Auch in dieser Situation war die einjährige Ausbildung zur Purzelbaum Gruppenleiterin ein Glücksfall. Der Lehrgang wird in Kooperation mit dem Bildungshaus Batschuns durchgeführt, umfasst 10 Module sowie einen Praxisteil mit schriftlicher Dokumentation. Für Menschen, die sich in der deutschen Sprache nicht sicher fühlen, stellt er eine echte Herausforderung dar. Für die Frauen brauchte es deshalb einen kräftigen Anstoß von außen, diesen Schritt überhaupt zu wagen. Und auch im Verlaufe des Kurses wirkten einfache Sätze wie „Du schaffst das. Du kannst gut deutsch sprechen.“ Wunder. „Wir waren unmutig“, erzählt Roza Mjagtschieva rückblickend. Wieder war die fehlende Sprache ein emotionales Hindernis. Bestandenes aber beflügelte. Souverän leiten Roza Mjagtschieva und Bachu Alieva heute selbstständig ihre Gruppe, im Herbst kam in Dornbirn eine dritte Gruppe hinzu. Cornelia Huber ist sehr glücklich mit dem Projekt. „Es hat sich hier so vieles zusammengefügt“, erklärt sie dankbar. „Frauen werden bestärkt und befähigt, sowohl die Teilnehmerinnen als auch die Gruppenleiterinnen.“
Wer einen Purzelbaum schlagen will, braucht nicht nur die richtige Technik dazu, sondern auch eine Portion Mut. Ängstlichkeit und Zögern verhindern das Gelingen. Wer aber über beides verfügt, erlebt eine Bewegung, die Spaß macht und Energie freisetzt. Genau diese Wirkung liegt auch in den Purzelbaum Eltern-Kind-Gruppen.
Serie: Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft
Integrationskurse und Spracherwerb mögen ein Anfang sein. Doch wenn es um den sozialen Wandel geht, der mit Zuwanderung verbunden ist, sind die Menschen mit Migrationserfahrung nur eine der Zielgruppen von Erwachsenenbildung. Die Anforderungen der Migrationsgesellschaft betreffen uns alle. Fragen nach Teilhabe, Verständigung und Zusammenleben stellen sich immer wieder neu. Wie Erwachsenenbildung diese Anforderungen beschreibt, reflektiert und deutet, und welche Angebote für Lernen und Bildung sie ihnen entgegen bringt, ist Gegenstand einer Serie von Artikeln auf erwachsenenbildung.at. Alle Beiträge in der Serie finden Sie hier.
Quelle: Vorarlberger KirchenBlatt
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