"Armutsbekämpfung ohne Erwachsenenbildung ist nicht möglich"
[Katarina Popovic] Unser Anliegen ist es das Recht auf Bildung und den Zugang zur Bildung überall und für alle zu ermöglichen, der Fokus liegt dabei auf der Erwachsenenbildung. Auch Erwachsene haben das Recht auf Erwachsenenbildung, und das wird oft vergessen. Unsere Arbeit war bisher eng mit der Entwicklungszusammenarbeit verbunden, vor allem mit der Arbeit und Präsenz in den Entwicklungsländern. Das hat sich verändert. Wir sind jetzt auch stärker in den sogenannten entwickelten Ländern präsent, denn das Recht auf Erwachsenenbildung ist auch dort nicht gesichert. Überall kommt es zu Kürzungen von Budgets für Bildung und Erwachsenenbildung. Deshalb werden wir immer mehr zur globalen Stimme der Erwachsenenbildung.
Ein zentrales Ziel des ICAE ist ein gesicherter weltweiter Zugang zu Bildung. Vor welchen Herausforderungen stehen wir da?
Den Zugang zu sichern heißt überhaupt einmal das Recht auf Bildung zu haben. Gerade aber für Erwachsenenbildung haben viele Regierungen wenig Verständnis und es gibt nur sehr reduzierte Bildungskonzepte. Haben Erwachsene in ihrer Jugend die Bildungsangebote verpasst, dann ist das ihr Pech. Hier braucht es ein Umdenken bei den Verantwortlichen. Denn auf Basisbildung und eine erste Berufsbildung sollten alle ein Recht haben, auch wenn sie eine 2. oder 3. Chance dafür brauchen. Erwachsenenbildung darf nicht als „Luxus“ oder „Hilfe für die Armen und Analphabeten“ gesehen werden, sondern als ein wichtiges Instrument für das Erreichen von Zielen aus unterschiedlichsten Bereichen.
Um das zu ermöglichen, dafür braucht es zum einen finanzielle Ressourcen und zum anderen das politische Verständnis, dass Bildung und Erwachsenenbildung eine langfristige Investition sind. Politiker und Entscheidungsträger investieren aber lieber in Bereiche, die im 4-Jahres-Rhythmus glänzende Ergebnisse liefern.
Was sind aktuell die globalen Themen der Erwachsenenbildung, vor allem in Verbindung mit der Entwicklungszusammenarbeit?
Einen kritischen Punkt sehe ich vor allem im Verständnis von Erwachsenenbildung. Sie wird in Europa aktuell oft auf die berufliche Weiterbildung reduziert. Dabei geht es in der weltweiten Entwicklung vor allem um Themen wie Grundbildung, Emanzipation, Bürgerrechte und politische Bildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung. Schaut die Welt auf das wirtschaftlich erfolgreiche Europa, dann gibt es aber nur Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung. In Afrika wird das dann oft so interpretiert: Die Menschen brauchen keine Allgemeinbildung, es genügt in die Entwicklung von Fertigkeiten zu investieren, wie eine minimale Ausbildung für den Kohleabbau, von der nur die großen Firmen und Konzerne massiv profitieren.
Das Spektrum an Themen war vor 20 Jahren viel breiter. Wir haben hinsichtlich der Ideen, wie wir das Recht auf Bildung nachhaltig sichern können, eher einen Schritt zurück gemacht. Und hinsichtlich des politischen Willens dafür, zehn Schritte zurück. Vor 20 Jahren dachten wir, beispielsweise, dass Alphabetisierung bald kein Thema mehr sein würde. Aber das ist es immer noch. Die Zahl der Menschen mit Alphabetisierungsbedarf liegt bei 757 Millionen, die reale Zahl ist wahrscheinlich viel größer - das ist schockierend. Und das betrifft nicht nur die Entwicklungsländer. Die Ergebnisse der PIAAC-Studie haben uns gezeigt, dass grundlegende Herausforderungen wie Alphabetisierung auch Europa noch immer betreffen.
Worin besteht die bildungspolitische Verantwortung Europas in der globalen nachhaltigen Entwicklung?
Wir haben in Europa unsere emanzipatorischen Bildungswurzeln vergessen. Es ist uns nicht mehr bewusst welchen Einfluss Bildung auf unsere Entwicklung genommen hat. Europa schuldet diese Lessons Learned aber der Welt. Wir sind Global Citizens und tragen damit auch eine Verantwortung. Einem Land kann nur nachhaltig geholfen werden, wenn man auch die Bildung forciert und unterstützt, so wie wir es in Europa gemacht haben.
Das Übernehmen von Verantwortung kann aber auch ganz direkt mit der aktuellen Flüchtlingskrise in Europa in Verbindung gesetzt werden. Wir haben hier eine moralische Verantwortung und die Erwachsenenbildung kann dabei wichtige Aufgaben übernehmen. Zuallererst heißt das, die Menschen zu informieren und ihnen Hintergründe zu erklären: Was ist in den Ländern eigentlich passiert, aus denen die Menschen fliehen? Und was ist die Verantwortung oder sogar die Schuld der Politik, vor allem auch der Europäischen Politik für die prekäre Lage in diesen Ländern? Die flüchtenden Menschen kommen aus Teilen der Welt, die unter anderem an den Folgen der europäischen Kolonialpolitik oder Neo-Kolonialpolitik leiden. Kriege werden auch in unserem Namen geführt, Entwicklungshilfe in Form von Waffen aus unseren Budgets finanziert. Wenn die Rechnung dafür kommt, dann müssen wir uns fragen, was wir getan haben, dass es dazu gekommen ist - oder was hätten wir tun können, dass es nicht dazu kommt. Der Flüchtlingsstrom ist nur eine Konsequenz unseres Tuns und wir in Europa müssen diese Zusammenhänge und Prozesse wahrnehmen und verstehen.
Was kann die Erwachsenenbildung in der aktuellen Flüchtlingssituation leisten?
Die Erwachsenenbildung hat nun mehr denn je eine Integrationsfunktion. Die Idee jetzt die Tore zu schliessen, damit keine Flüchtlinge mehr kommen, ist nicht nur unmenschlich und unmoralisch, sondern auch naiv und lächerlich. Migrationen, gewollte und ungewollte, waren immer begleitende Prozesse in der Geschichte der Menschheit. Sie haben auch Europa wesentlich geprägt. Wir sollten also nicht archaische abwehrende Urinstinkte einschalten, sondern proaktiv handeln, langfristig denken und diese Menschen als eine Chance sehen.
Die große Anzahl der Migrationen kann nicht physisch gestoppt werden. Es braucht eine langfristige Unterstützung für die Besserung der Situation in den Krisenländern. Die Menschen brauchen vor allem dort die Unterstützung, wo sie leben. Niemand verlässt gerne sein Zuhause - nicht ohne in Not zu sein. Um diese Menschen und ihr Land zu unterstützen, kenne ich keine besseren Lösungen als Demokratie und Wohlstand mit der Hilfe der Erwachsenenbildung aufzubauen.
Wir haben Waffen massiv exportiert - jetzt ernten wir die Folgen. Warum versuchen wir es nicht einmal mit dem Export von Erwachsenenbildung?
Die Finanzierung ist eine relevante Frage, wenn es um die Umsetzung von Erwachsenenbildung geht. Im Juli dieses Jahres fand die „Third International Conference Financing for Development“ in Äthiopien statt. Mit welchen Ergebnissen für die Erwachsenenbildung?
An die Konferenz in Addis Ababa, wurden hohe Erwartungen gesetzt. Für uns als Interessenvertretung war es aber die Stunde der Wahrheit. Erwachsenenbildung war überhaupt kein Thema. Mitten in Afrika war nicht einmal die Rede davon, dass man Alphabetisierungsmaßnahmen finanzieren sollte. Die Entwicklungsländer werden im Bildungsdiskurs komplett alleine gelassen.
Den NGOs in diesen Ländern ist zwar bewusst, dass Bildung Macht hat. Und dass es dabei nicht um Hochschulbildung geht, sondern um Bildung, die Empowerment-Potential hat. Aber wenn Millionen von Menschen an Hunger und Malaria sterben, und das Geld, auch die Entwicklungshilfegelder, für das Bezahlen von Schulden und hohen Zinssätzen benutzt wird oder für den Waffen-Einkauf, dann hat die Finanzierung von Bildung keine Chance. Es dreht sich im Kreis und der Diskurs des neoliberalen Kapitalismus dominiert, der Erwachsenenbildung entweder reduziert oder sie zu privatisieren versucht.
Wie kann ICAE als Interessenvertretung die Erwachsenenbildung in der globalen politischen Diskussion zum Thema machen?
Wir kämpfen täglich um die Anerkennung der Erwachsenenbildung. Nicht, dass uns die Argumente fehlen, die Entscheidungsträger wollen sie nur nicht hören - sie haben eine andere Agenda. Trotzdem. Für uns heißt globale Interessenvertretung der erwachsenen Lernenden weltweit, dass egal wo Bildung ein Thema ist, wir dabei sein werden, wenn Politik gemacht wird. Sei es Bildungs- oder Sozialpolitik. Auch wenn wir in der letzten Reihe schreien "Wo ist die Erwachsenenbildung?"
Katarina Popovic ist Generalsekretärin des International Council for Adult Education (ICAE) und Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Belgrad, Serbien. Sie ist Presidentin der serbischen Gesellschaft für Erwachsenenbildung und hat in ihrer beruflichen Laufbahn in mehreren akademischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen in Europa, Zentralasien und dem Mittleren Osten gewirkt. Als Vertreterin der Civil Society macht sie Lobby- und Advocacyarbeit für lebenslanges Lernen und Erwachsenenbildung in EU-Gremien und in UN.
Quelle: Das Interview ist in gekürzter Form erschienen auf EPALE E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa; erwachsenenbildung.at brachte die Vollversion.
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