Buch. Text. Ich.

17.04.2015, Text: Adalbert Melichar, Redaktion: Renate Ömer, BhW Niederösterreich/Ring ÖBW
Autor und Erwachsenenbildner Adalbert Melichar über Literaturvermittlung am BHW Niederösterreich und das Potential von Literatur. (Serie: Kunst und Kultur)
Professor Adalbert Melichar
Foto: K.K.
Unter dem Motto "lesend sich selbst entdecken" bieten engagierte Bildungseinrichtungen in Niederösterreich lebensbegleitende und sinnerfüllende Literaturveranstaltungen an. Ausgehend vom Fachbereich Literatur des BHW Niederösterreich und unter zukünftiger Einbindung der niederösterreichischen Bibliothekslandschaft werden Literaturrunden, Literaturgespräche, Schreibworkshops entwickelt. Adalbert Melichar, Buchautor, Erwachsenenbildner und langjähriges Vorstandsmitglied des Niederösterreichischen Bildungs- und Heimatwerkes, beschreibt diese und reflektiert über das Potential von Literatur und seine langjährigen Praxiserfahrungen.

 

Projekte und Initiativen
Die "Kick-off"-Veranstaltung für dieses zukunftsweisende Projekt fand bereits am 26. März 2014 im Niederösterreichischen Landhaus unter dem Motto "Medien, Bildung, Begegnung, Besinnung - Öffentliche Bibliotheken als soziale Erfahrungsräume, kulturelle Erlebnisräume und mediale Bildungsräume" statt. Ebenso erfolgte eine Präsentation dieses Modells im Rahmen der Römerland Carnuntum Akademie unter dem Titel: "Leseräume - Leseträume" - Die Faszination und das sinnliche Erlebnis von Text, Raum und Zeit. Zur Zeit werden im Rahmen dieses Projektes Schreib-Workshops und Literaturgespräche in öffentlichen Bibliotheken angeboten. In weiterer Folge ist an die Ausbildung von Betreuerinnen und Betreuern für Schreibgruppen und Literaturgesprächsrunden gedacht. 

 

Poesie- und Bibliotherapie
Hinter dieser Art der Literaturvermittlung steht das Konzept der Poesie- und Bibliotherapie. Es empfiehlt das Lesen von aufbauender Literatur und verwendet das Schreiben eigener literarischer Texte in Heilungsprozessen und zur Persönlichkeitsentwicklung. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Entschleunigung. Schreiben - und demnach auch das Lesen - setzt nach H. G. Petzold und I. Orth das Innehalten voraus, das sich Befreien vom "Funktionieren". Nur im Innehalten, nur wenn die Zeit still steht, kann der Mensch zu sich selber kommen, zu jenem Augenblick der Selbstbegegnung.

 

Auszeiten
Das Wort "Auszeit" gewinnt in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung: sei es vom Stress im Berufsleben, sei es von einer wenig zufriedenstellenden Privatsphäre, sei es von der Überforderung beim Studium oder bei der Berufsausbildung, sei es von einer andauernden Arbeitslosigkeit oder vom drohenden Ausschluss aus dem Erwerbsleben überhaupt. "Auszeiten" bieten die Chance zum lebensbejahenden und lebensbegleitenden Umgang mit Literatur und Texten aller Art.

 

Lesen als Selbststärkung
Literatur wird gemeinhin mit Unterhaltung, Information, Wissen und Weltsicht verbunden. Ebenso vermag Literatur unsere Gefühlswelt anzusprechen, unser Denken zu leiten, unsere Emotionen in vernünftige Bahnen zu lenken oder seelische Spannungen abzubauen. Das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Hand kann zum Lebensratgeber werden und unserer Lebenshaltung sinnvolle Richtung geben. Ebenso kann uns ein Buch ohne Zeit- und Leistungsdruck in Wunsch- und Fantasiewelten geleiten, in denen wir Seelenkraft, positive Selbsterfahrung und Lebensenergie schöpfen können.

 

Literatur als Medium
Literatur vermittelt nicht nur Unterhaltung, Information und Wissen. Literatur ist auch dazu geeignet, unseren Gefühlshorizont zu erweitern, uns denkend, fühlend und spürend zu machen und im gegebenen Falle ist Literatur durchaus geeignet, in uns bestehende Spannungen abzubauen, uns in Wunschwelten zu versetzen, unsere Lebenshaltung positiv zu beeinflussen und uns Seelenkraft und Energie schöpfen zu lassen. Wenden wir uns dem Buch zu, so entdecken wir darunter Kinderbücher, Märchen, Sagen, Jugendbücher, Lebensratgeber für Jugendliche, Belletristik, Unterhaltungsromane, Sachbücher für vielfältige Lebensbereiche, ratgebende Literatur, spezielle Fachbücher und noch einiges mehr - dies dem heutigen Stand der Technik entsprechend als Druckmedien oder in digitaler Form (E-Books). In jedem Falle aber gilt das Buch als Dialogpartner, mit dem man interaktiv ins Gespräch kommen kann.

 

Zugänge zum Lesen
Bei meinen Veranstaltungen nutze ich folgende Zugänge zum Lesen:

 

  • Lesen als Unterhaltung, Informationsquelle und Wissensvermittlung
  • Lesen als Horizonterweiterung in Verbindung mit digitalen Medien
  • Lesen als Vertiefung - das digitale Medium als Weg und Anreiz
  • "Lesen ist Kino im Kopf"
    Literatur setzt sich als nacherlebbare Bilderfolge in uns mehr oder weniger zeitlos fest. Das entstandene "Filmarchiv" bereichert unsere Lebenshaltung und Lebenseinstellung und ist mehr oder weniger jederzeit abrufbar. Diese positiven Erfahrungen mache ich bei Schreibworkshops, wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkennbar daraus schöpfen.
  • Lesen zur Einsicht in Verhaltensweisen, mit denen wir uns auseinandersetzen und für unser Leben Schlüsse ziehen können.
  • Lesen als aktive Lebenshilfe
    Ein Buch gilt als Refugium, in dem man seine Gefühlswelt ungehindert ausleben kann.
  • Lesen als willkommene Flucht aus der Realität in eine Welt der Muße und Ruhe. Das setzt ein gewolltes Innehalten und den zeitweiligen Ausstieg aus dem Alltag sowie eine stimmige Lesesituation voraus.

 

Spannungsfeld von Rückzug und Austausch
Intensives Lesen kann zur Vereinsamung führen. Allzu oft liest man tatsächlich lediglich für sich. Dabei vergisst man das soziale Umfeld, die nahe Umwelt und die damit verbundenen Verpflichtungen und Möglichkeiten. Oft sind die Identifikationsangebote von Romanfiguren greifbarer: die Persönlichkeiten, in man beim Lesen "schlüpfen" kann und deren Leben man in erdachten Landschaften und Situationen fiktiv ausleben kann. Das führt nicht zwangsläufig zum gesellschaftlichen Rückzug, sondern mitunter zu einer neuen Lebenshaltung und Weltsicht. In diesem Sinne plädiere ich mit A. Manguel für "Lesen [als] eine bequeme, einsame und sinnliche Beschäftigung."

 

Aktuelle Schwerpunkte
"Von der Seele schreiben" - "Für die Seele lesen" - das sind die derzeitigen sozio-kulturellen Schwerpunkte des Fachbereichs Literatur beim BHW Niederösterreich. Darunter verstehen wir Angebote wie Literaturrunden, Literaturgespräche, Schreibworkshops, Text- und Fabulierworkshops, Literaturwanderungen, Literaturspaziergänge u.v.m.

 

Bibliotheken als Drehscheiben
Darüber hinaus bieten öffentliche Bibliotheken alle Art Literatur für "seelische Lesereisen" und "Filmabende im Kopf" an. Diese Art von Literaturangeboten und Literaturkonsum wird bereits seit vielen Jahren intensiv gefördert. Das beginnt bei einer nutzerorientierten Medienauswahl, bei einer entsprechenden Leseberatung und setzt sich in Form von Vorträgen, Diskussionsrunden, Leseabenden, Workshops über Literatur und Schreibworkshops fort.


Zeitgemäß geführte öffentliche Bibliotheken sehen sich heute nicht nur als Orte der Literaturvermittlung. Sie sind auch Orte der Begegnung, Orte der Informations- und Wissensvermittlung, Orte der gesellschaftlichen Integration für Nutzerinnen und Nutzer aller Gesellschaftsschichten und vor allem Orte, wo man Zugang zu digitalen Medien vorfindet. Die öffentliche Bibliothek als "Ort der Besinnung und des Innehaltens" befindet sich in Entwicklung und geht mit eher zaghaften Schritten der noch nicht so entwickelten Bibliotherapie Hand in Hand.

 

Serie "Kunst und Kultur in der Erwachsenenbildung"
In einer Serie von Berichten, Interviews, Essays und programmatischen Beiträgen berichten Korrespondentinnen und Korrespondenten aus Verbänden, Netzwerken und Einrichtungen 2015 über die künstlerischen und kulturellen Aspekte von Erwachsenenbildung. In dieser Gemeinschaftsinitiative soll sichtbar werden, wie wichtig kreative Zugänge zur Welt und deren Aneignung sind. Bildung fungiert hier ebenso sehr als Kulturträger wie auch Innovator. Sie eröffnet Freiräume im Denken und Handeln, schafft Verständigung zwischen den Menschen und Kulturen und hilft uns Identität im Wandel zu begreifen und immer neu zu entwickeln.

Weitere Informationen:
  • Fachbereich Literatur am BHW NÖ
  • Hilarion G. Petzold / Ilse Orth (Hg.): Poesie und Therapie: Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten. Edition Sirius 2005
  • Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers. S. Fischer Verlag 2005

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