Bettina Dausien im Interview über Pädagogische Biographiearbeit

12.06.2014, Text: Anna Head, bifeb
Neue Fortbildung zur Entwicklung biographieorientierter Handlungs- und Reflexionskompetenz in Bildung und Beratung beginnt diesen Herbst.
Bettina Dausien über die Bedeutung pädagogischer Biographiearbeit
Foto: Ingeborg Melter
Bettina Dausien, Wissenschafterin an der Universität Wien, entwickelte das Fortbildungskonzept „Pädagogische Biographiearbeit“. Im Interview mit Anna Head spricht sie über die Biographisierung der Lebensführung und die daraus entstehenden Anforderungen an die pädagogische Praxis.

 

Warum ist Ihrer Meinung nach das Thema „Biographie“ relevant?


Die gesellschaftlichen Verhältnisse in denen wir leben sind komplex, sie verändern sich im Großen wie im Kleinen, allmählich oder mit rasanter Geschwindigkeit. Diese Bedingungen betreffen auch die Lebenswege der Individuen, die sich immer weniger an verbindlichen, stabilen Vorgaben und Vorbildern orientieren können. Denken wir etwa an die ökonomische Krise in Europa, die für viele Menschen bedeutet, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und Sicherheiten, auf denen sie ihre Lebenspläne aufgebaut haben, von heute auf morgen nicht mehr gelten. Auch Veränderungen des Arbeitsmarktes oder der Umbau des Bildungssystems bedeuten für die individuelle Lebensführung, dass Erfahrungen und Pläne immer wieder überdacht und verändert werden müssen. Oberflächlich gesehen vervielfachen sich Optionen und Entscheidungsanforderungen, zu denen wir uns verhalten müssen, andererseits stellt sich die Frage, ob die Spielräume, unser Leben nach selbstgesetzten Zielen und Wünschen zu leben, tatsächlich größer geworden sind oder ob sie nicht nach wie vor durch alte und neue soziale Strukturen eingeengt sind. Wie auch immer diese Fragen beantwortet werden – Antworten können letztlich nur durch empirische Analysen konkreter historischer und biographischer Konstellationen gefunden werden – unbestreitbar ist meines Erachtens, dass viele Aspekte des eigenen Lebens mehr denn je zur biographischen Gestaltungsaufgabe jedes/jeder Einzelnen geworden sind. Den Individuen wird eine „biographische Arbeit“ abgefordert, um ihr eigenes Leben zu gestalten und in einem sozial Kontext als anerkannte Biographie einbringen zu können. Die Biographisierung der Lebensführung ist allerdings historisch keineswegs neu. Dass das Thema „Biographie“ so aktuell ist, hat vermutlich damit zu tun, dass wir es seit einiger Zeit mit einer spezifischen, womöglich gesteigerten Form biographischer Reflexivität zu tun haben.

Weshalb ist der historische Zusammenhang des Themas wichtig?


Um die eben beschriebenen Prozesse zu verstehen hilft es sich klar zu machen, dass „Biographie“ historisch gesehen kein neues Thema ist. Es steht eigentlich mit dem Beginn der modernen Gesellschaft auf der Tagesordnung. Das Konzept Biographie beinhaltet die Idee und zugleich die reale soziale Erfahrung, dass Individuen nicht durch das Schicksal der Geburt festgelegt sind, sondern ihr Leben „selbst in die Hand nehmen“ können. Natürlich sind sie dabei nicht völlig frei; der individuellen Lebensgestaltung sind mehr oder weniger enge bzw. weite Grenzen gesetzt. Dennoch haben die Subjekte in modernen Gesellschaften die Möglichkeit, mehr noch, die soziale Verpflichtung, innerhalb dieser Spielräume ihr Leben zu gestalten, Entscheidungen zu treffen, Bildungswege einzuschlagen und andere zu verwerfen, eine bestimmte gesellschaftliche Position anzustreben oder auch nicht – und sie haben vor allem die Möglichkeit, ihre Lebenswege zu reflektieren, sich zu ihrem eigenen Leben in ein Verhältnis zu setzen. Dieses Selbst-Verhältnis eröffnet einen Freiraum, auch die Grenzen die einem gesetzt sind immer wieder neu zu interpretieren, an ihnen zu zweifeln, Entwürfe zu revidieren, Grenzen zu verschieben und unter Umständen auch zu überschreiten. Jeder Mensch tut dies und hat die Kompetenz dafür. Allerdings sind die konkreten Bedingungen und Folgen in jedem Fall individuell und außerdem gesellschaftlich ungleich verteilt. Im historischen Verlauf gesehen haben sich diese Freiräume jedoch enorm erweitert. Diese Diagnose sehe ich im Übrigen durchaus ambivalent. Einerseits betont sie ja die vergrößerten Handlungsspielräume der Individuen, ihr Leben jenseits gesellschaftlicher Normen und Begrenzungen „selbst in die Hand zu nehmen“. Andererseits gibt es auch Risiken und Zwänge, die mit dieser neuen Freiheit verbunden sind. Denn es entstehen neue Formen sozialer Ausschließung, wenn Menschen den gesellschaftlichen Ansprüchen an eine „selbstverantwortete Biographie“ nicht genügen können. In dieser Ambivalenz zwischen gestiegenen Handlungsspielräumen und gesellschaftlichen Ansprüchen leistet jeder von uns alltägliche biographische Arbeit.

Können Sie den Begriff „biographische Arbeit“ noch etwas genauer erläutern?


Mit „biographischer Arbeit“ meine ich die komplexe Leistung der Reflexion und Sinnbildung die wir alltäglich erbringen, wenn wir uns auf unser schon gelebtes und künftig erwartetes, entworfenes Leben beziehen. Wir tun dies gelegentlich beiläufig, für uns selbst oder im Gespräch mit anderen, oft aber auch explizit, wenn sich gesellschaftliche Anlässe dafür bieten. Das sind zum Beispiel Bildungs- und Berufswege und die damit verbundenen Übergänge, die vollzogen werden müssen, oder Entscheidungen, die unsere persönlichen Lebensumstände betreffen wie Familie, Partnerschaft, Wohnformen, die Frage, wie wir unser Alter(n) gestalten wollen und vieles andere mehr. Immer wieder sind wir gefordert, Perspektiven und biographischen Eigensinn (neu) herzustellen. In solchen Situationen greifen wir auf unsere bisherigen biographischen Erfahrungen zurück, reflektieren sie, organisieren sie neu und suchen damit neue Entwürfe und Handlungsmöglichkeiten.

Inwiefern ist es aber wichtig, die Beschäftigung mit der eigenen Biographie in einen professionellen (pädagogischen) Kontext zu stellen? Was steckt hinter dem Konzept der pädagogischen Biographiearbeit?


Die alltäglich geleistete biographische Arbeit spielt sich ja nicht im luftleeren Raum ab. Wenn wir unser Leben planen, reflektieren, Entscheidungen treffen, so beziehen wir uns dabei vielfach auf Rahmenbedingungen, die wir in den sozialen Welten, in denen wir leben, vorfinden. Dabei spielen Bildungsinstitutionen oder sozialpädagogische Kontexte wie Beratung, Hilfe und Betreuung eine wichtige Rolle. Es gibt eine Reihe pädagogischer Praxisfelder, in denen bereits explizite Formen biographisch orientierter Arbeit stattfinden oder zumindest diskutiert werden: In der Erwachsenenbildung gibt es seit vielen Jahren Konzepte und Praxiserfahrungen biographieorientierter Arbeit; ich erinnere nur an die Bedeutung biographischen Erzählens in der historisch-politischen Bildung oder der Frauenbildung, an Erzählcafés, Zeitzeug_innenerzählungen, aber auch in Bereichen der beruflichen Orientierung und Bildung oder neuerdings Ansätze einer biographieorientierten Bildungs- und Kompetenzberatung. Hier wird erwartet, dass biographische Zugänge, zum Beispiel in der Arbeit mit sogenannten „bildungsbenachteiligten Gruppen“, Möglichkeiten für Empowerment und Bildung eröffnen, die durch herkömmliche Bildungsprogramme nicht erreicht werden können.

 

Auch in der Sozialen Arbeit finden wir seit langem Formen der „Biographiearbeit“, die genutzt werden, um Menschen in Lebenssituationen zu unterstützen, wenn ihre Fähigkeit zur biographischen Arbeit vorübergehend oder auch für einen längeren Zeitraum eingeschränkt ist. Ich denke da an Beratung und Krisenintervention, die Arbeit mit Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen aus den sozialen Netzen und anerkannten Formen der Lebensführung „herausgefallen“ sind und Unterstützung brauchen, um einen für sie gangbaren Lebensweg zu entwickeln, oder an die Arbeit mit Menschen mit Behinderung usw. Auch im fortgeschrittenen Alter gibt es zunehmend Bedarf an sozialer und pädagogischer Begleitung, sei es im Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand, in der Freiwilligenarbeit oder in der intergenerationalen Arbeit. Schließlich finden sich im Bereich der Pflege bzw. Pflegebildung und im Gesundheitsbereich auch viele im weiteren Sinn pädagogische Formen der biographieorientierten Begleitung, Beratung und Unterstützung. Ein aktuelles Thema ist hier zum Beispiel die Arbeit mit Demenzkranken und ihren Familien. Dies sind nur einige Felder, in denen mit biographischen Methoden gearbeitet wird. Häufig fehlt es aber an einer grundlegenden Fundierung dieser Arbeit und einem theoretischen Rahmen, der die professionellen Pädagoginnen und Pädagogen befähigt, ihre Arbeit mit solchen Ansätzen zu begründen und zu reflektieren.


Die Arbeit mit biographischen Ansätzen stellt hohe Anforderungen an die Professionellen und auch an die Institutionen, die solche Arbeitsformen bereits nutzen oder entwickeln wollen. Es gibt hier meines Erachtens einen großen Bedarf an Professionalisierung und beruflicher Weiterbildung, denn in den bisher bestehenden Ausbildungskontexten und den verschiedenen pädagogischen Studiengängen sind Ansätze der Biographiearbeit kaum verankert – und vor allem nicht wissenschaftlich fundiert. Dies war für mich und einige Kolleginnen vor etwa zehn Jahren Anlass, ein berufsbegleitendes Fortbildungskonzept für „Pädagogische Biographiearbeit“ zu entwickeln, das wir seitdem in etlichen Kursen durchgeführt haben.

Was hat Sie dazu bewegt sich mit Pädagogischer Biographiearbeit zu beschäftigen?


Ausgangspunkt war eine langjährige Erfahrung in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung und ein Arbeitszusammenhang von Wissenschaftler_innen, in dem wir uns gefragt hatten, welche Relevanz das in der Forschung gewonnene Wissen für pädagogische Praxis haben könnte. Recherchen und Gespräche in unterschiedlichen Praxisfeldern hatten dann die Idee bestärkt, gemeinsam mit Kolleg_innen aus der Bildungspraxis ein Konzept für Pädagogische Biographiearbeit zu erarbeiten. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass in der pädagogischen Praxis biographische Methoden oft als „Instrumente“ genutzt wurden, dass die Professionellen aber oft unsicher waren, wie sie damit arbeiten sollen und welche (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Effekte dabei produziert werden können. Außerdem hatten wir den Eindruck gewonnen, dass viele Institutionen vor der Herausforderung stehen, einerseits eine stärkere Biographieorientierung in die Arbeit mit ihren Adressat_innen einführen zu wollen (oder zu sollen), andererseits aber keine Konzepte dafür zu haben.


In unserer Ausarbeitung eines Konzepts für Pädagogische Biographiearbeit ging es vor allem darum, die theoretischen und methodischen Ansätze aus der wissenschaftlichen Biographieforschung mit den konkreten Erfahrungen und Fragestellungen aus verschiedenen Feldern pädagogischer Praxis zu verknüpfen. Im Rahmen eines dreijährigen Wissenschaft-Praxis-Projekts haben wir dann ein Konzept entwickelt, das eine wissenschaftliche Fundierung für eine biographieorientierte pädagogische Praxis anbietet. Dabei geht es nicht nur und nicht in erster Linie um das methodische Handwerkszeug, sondern vor allem um einen theoretischen umfassenden Begründungs- und Reflexionsrahmen, der es erlaubt, die eigene Praxis systematisch zu entwickeln und immer wieder kritisch zu hinterfragen. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die interaktive Ebene pädagogischer Arbeit gesehen wird, also die Frage, wie man mit Methoden der Biographiearbeit mit bestimmten Adressat_innen arbeiten kann, sondern auch die institutionelle Ebene thematisiert wird. Es geht also auch darum, die Rahmenbedingungen zu reflektieren, unter denen – nach bestimmten Qualitätskriterien und ethischen Gesichtspunkten – mit den Biographien anderer gearbeitet wird.

Vor welchen Aufgaben steht die pädagogische Praxis?


Die eben genannten Punkte machen deutlich, dass professionelle biographische Arbeit eine sehr komplexe und anspruchsvolle Arbeit ist, deren Bedeutung – so zumindest meine These – zunehmen wird. Institutionen werden sich der Aufgabe stellen (müssen), die individuelle biographische Arbeit von Lernenden und Ratsuchenden zu unterstützen und Prozesse biographischer Kommunikation zu begleiten. Diese in vieler Hinsicht neue Anforderung an die pädagogische Praxis verlangt eine Weiterentwicklung professioneller Kompetenzen. Die pädagogische Praxis ist also gefordert, ihre Konzepte zu überdenken und sich deutlicher an den biographischen Situationen und Lernprozessen ihrer AdressatInnen zu orientieren. Dies gilt für die klassischen Institutionen des Bildungssystems, die sich darauf einstellen müssen, ihre Rolle im Kontext von Bildungswegen zu begreifen, die als ‚lebenslanges Lernen’ konzipiert sind und die gesamte Lebensspanne umfassen. Es gilt ebenso für die verschiedenen Formen der Erwachsenen- und Weiterbildung, die zunehmend Funktionen der Begleitung und Beratung von Bildungswegen übernehmen. Und es gilt schließlich für die Einrichtungen der Sozialen Arbeit, die insbesondere da relevant werden, wo biographische Übergänge krisenhaft verlaufen, und wo Individuen in ihrer Lebensgestaltung vorübergehend professioneller Unterstützung bedürfen.

Was raten Sie? Wie kann das gelingen?


Professionalisierungsprozesse sind notwendig. Es genügt nicht, einzelne Methoden zur Anregung biographischen Lernens oder biographischer Reflexion anzuwenden – im Gegenteil: eine rezeptbuchartige Praxis steht in der Gefahr, unreflektiert neue Normen zu errichten oder Prozesse anzustoßen, die in ihren Effekten nicht abgeschätzt und verantwortet werden können. Erst die Verknüpfung von wissenschaftlichem Wissen, Praxiserfahrungen sowie methodischen Kompetenzen befähigt dazu, einen „biographischen Blick“ auf die eigene berufliche Praxis zu richten, die Ressourcen in den Lern- und Lebensgeschichten der AdressatInnen wahrzunehmen sowie Bedingungen und Grenzen biographischer Ansätze zu reflektieren. Dazu gehört nicht zuletzt auch ein Rahmen, in dem die Professionellen selbst ihre biographischen Erfahrungen und Ressourcen reflektieren können.

Univ.-Prof. Dr. Bettina Dausien ist Professorin für Pädagogik der Lebensalter an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien und leitet gemeinsam mit Dr. Daniela Rothe den Lehrgang „Pädagogische Biographiearbeit“ am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung, bifeb).

Weitere Informationen:
  • Der Lehrgang "Pädagogische Biographiearbeit" startet im Oktober 2014 am bifeb). Mehr Informationen finden Sie im Detailprogramm.
  • Informationsveranstaltung zum Lehrgang: 23.06.2014, 17.00 - 19.00 Uhr im IWK Institut für Wissenschaft und Kunst, Berggasse 17/1, 1090 Wien

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