"Die Neugierde für Wissenschaft und Praxis treibt mich an"

19.05.2022, Text: Jeremias Stadlmair, Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb)
Dennis Walter, seit April neuer Leiter des bifeb, spricht über seinen Weg in die Erwachsenenbildung und das Anliegen, Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen.
Porträt von Dennis Walter
Dennis Walter ist neuer Leiter des bifeb, zuletzt war er als Abteilungsleiter an der VHS Salzburg tätig.
Foto: CC BY, Sonja Sillipp, Zuschnitt: CONEDU, auf erwachsenenbildung.at
Dennis Walter studierte Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung in Münster und war zuletzt an der VHS Salzburg tätig. Nun ist er der neue Leiter des Bundesinstituts für Erwachsenenbildung (bifeb). Im Interview erzählt er seine persönliche Geschichte und gibt Einblick in die Aufgaben und Anliegen des bifeb.

Jeremias Stadlmair: Lieber Dennis, du bist seit 1. April 2022 Leiter des Bundesinstituts für Erwachsenenbildung (bifeb). Herzliche Gratulation zur Bestellung! Zum Einstieg gleich eine grundlegende Frage: Was begeistert dich an der Erwachsenenbildung?

Dennis Walter: Lieber Jeremias, vielen Dank für die herzliche Begrüßung und für die spannende Einstiegsfrage. Meine Begeisterung für Erwachsenenbildung entspringt zunächst meiner eigenen Lernbiografie. Ich bin gebürtiger Dortmunder und der Region des Ruhrgebiets in Nordrhein-Westfalen entsprechend ein typisches "Arbeiterkind" aus einer Familie ohne Hochschulerfahrungen. Nach meiner wenig glorreichen Schullaufbahn, die mehr schlecht als recht dennoch in der allgemeinen Hochschulreife mündete, wollte ich unbedingt etwas "Praktisches" lernen und habe deswegen eine Ausbildung zum Hotelfachmann begonnen. Nach einigen Monaten merkte ich bereits, dass ich wohl eine – zumindest aus meiner damaligen Warte aus betrachtet – eher suboptimale Entscheidung getroffen hatte. Und so wuchs in meinem Kopf die Idee heran, ich könnte doch ein Studium "ausprobieren". Meine schulischen Interessen lagen im Bereich der Sozialwissenschaften und so wollte ich Erziehungswissenschaften studieren – ohne damals so richtig zu wissen, wohin mich diese "Reise" führen würde.

Heute wissen wir, wohin die Reise führte: in die Erwachsenenbildung.

Genau. Im Laufe meines Studiums an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster merkte ich, welche inneren und äußeren Kräfte Bildung und Kompetenzentwicklung freisetzen können. Nach wenigen Monaten als Student – ich hatte mich mittlerweile für den Studienschwerpunkt "Erwachsenenbildung" entschieden und arbeitete nebenbei auch am dortigen Lehrstuhl – fühlte ich mich wie ein neuer Mensch. Heute würde man wahrscheinlich vom transformativen Lernen sprechen. Mit Klaus Holzkamps – der Begründer der Kritischen Psychologie – Worten: Ich fühlte mich das erste Mal im Leben als Subjekt und ich spürte die Möglichkeit einer Verfügungserweiterung im gesellschaftlichen Möglichkeitsfeld. Soll heißen: Ich konnte auf einmal neue Wege beschreiten, von denen ich bis vor Kurzem noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Mein Handlungsspielraum wurde mit zunehmender Bildung und Kompetenz spürbar größer, in der persönlichen Entwicklung wie auch beruflich. Dieses euphorische Gefühl begleitet mich bis heute.

Wenn du so erzählst, fällt auf, dass du deine persönlichen Bildungserfahrungen ganz stark mit der Bildungstheorie verbindest. Eine Verknüpfung, die dir wichtig ist?

Die Neugierde für die Wissenschaft und Praxis der Erwachsenenbildung treibt mich bis heute an. Wir haben das Glück, in einem unglaublich spannenden, vielfältigen und herausfordernden Praxisfeld tätig zu sein. Die Erwachsenenbildungslandschaft zeichnet sich durch ihre enorme Vielfalt an beruflichen Rollen, möglichen Tätigkeitsprofilen aber auch Gestaltungschancen aus. Erwachsenenbildung als Praxis ist schon Jahrhunderte alt. Fast schon komplementär dazu haben wir mit der Erwachsenenbildungswissenschaft eine – zumindest im engeren Sinne – noch relativ junge Disziplin, die sich meines Dafürhaltens jedoch durch ihre besondere Praxisfeldnähe auszeichnet. In der Kombination haben wir einen Möglichkeitsraum, der neugierigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch Praktikerinnen und Praktikern reizvolle Optionen bietet. Dies betrifft sowohl forschende Aktivitäten wie auch Gestaltungspotenziale im Praxisfeld – und alles was dazwischenliegt.

Du warst zuletzt im Volkshochschulsektor tätig und kennst daher die Praxis, bist aber auch Doktorand und Lehrender in der Erwachsenenbildungswissenschaft. Was nimmst du aus deiner wissenschaftlichen Erfahrung für die Praxis mit?

Ich habe gerade ja schon erwähnt, dass wir mit der Erwachsenenbildungswissenschaft eine sehr praxisfeldnahe Bezugsdisziplin haben. Diese widmet sich unter anderem den konkreten operativen Herausforderungen des Feldes, sei es z.B. der Bildungsplanung oder dem Kursgeschehen. Der Ausspruch von Kurt Lewin "Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie" trifft damit meines Erachtens hier besonders zu. Was mir die wissenschaftliche Perspektive insbesondere verdeutlicht hat, ist die Erkenntnis, dass professionelles Handeln fernab von Rezeptologien und Handlungsanleitungen stattfindet. Es geht vielmehr darum, wissenschaftlich-fundierte Erkenntnisse in die Praxis zu übertragen und mit Spannungsfeldern und Widersprüchen umgehen zu können. Diese Spannungsfelder und Widersprüche können durch verschiedene Erwartungen und Ansprüche an Erwachsenenbildung auftreten oder einfach dadurch, dass es in der Praxis per se immer um Einzelfälle, also um Individuen in einzigartigen Lernsituationen geht. Aiga von Hippel spricht in diesem Zusammenhang treffenderweise von Widerspruchskonstellationen und professionellen Antinomien (PDF), die es als Erwachsenenbildnerin oder Erwachsenenbildner auszuhalten und konstruktiv zu bearbeiten gilt. Die Erwachsenenbildungswissenschaft sensibilisiert uns für derartige Spannungsfelder und leitet uns an, nicht der Versuchung zu unterliegen, einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge zu präferieren.

Und nun allgemeiner gesprochen, wo kann die Praxis der Erwachsenenbildung von Wissenschaft profitieren?

Diese Frage würde ich ein wenig ummünzen. Wissenschaft und Praxis bedürfen sich gegenseitig, im Idealfall herrscht ein wechselseitiges Anregungspotenzial. So wie die Erwachsenenbildung von der arbeitsfeldnahen Forschung der Wissenschaft profitiert, generiert die Praxis fortlaufend neue Forschungsfragen und Erkenntnisinteressen, die eine solche Praxisnähe überhaupt erst ermöglichen. Wichtig ist – und hier kommt das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung ins Spiel – dass es gewissermaßen "systematische Begegnungs- und Austauschräume" gibt, in denen Praktikerinnen und Praktiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder konstruktiv aufeinandertreffen.

Das nimmt ein Stück weit meine nächste Frage vorweg, nämlich die nach der Rolle des bifeb für den Diskurs zwischen Wissenschaft und Praxis in der Erwachsenenbildung. Also frage ich anders: Soll das bifeb vor allem ein Raum zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis sein, oder gibt es auch andere wichtige Aufgaben für das bifeb?

Das systematische Schaffen von Austauschräumen – im Sinne einer Professionalisierungsdrehscheibe – ist sicherlich eine von mehreren wichtigen Funktionszusammenhängen, in denen das bifeb idealerweise aufgeht. Noch ein kurzer Nachtrag dazu: Hier gibt es unterschiedlichste Spielarten, Settings und Formalisierungsgrade, von relativ informellen "Meetups" – z.B. in hybrider Form – hin zu anerkannten Universitätslehrgängen. Auch unser Magazin "bifeb aktuell" kann in diese Richtung gedacht werden – als schriftliches Austauschforum zwischen Wissenschaft und Praxis.

Sowohl informelle als auch formale Austauschräume zu bieten, ist also zentrale Aufgabe des bifeb, aber nicht die einzige?

Genau – darüber hinaus hat das bifeb immer auch einen Gestaltungsanspruch. Wir verstehen uns als Kompetenzzentrum für die Weiterentwicklung und Professionalisierung der Erwachsenenbildung in Österreich und sind damit immer auch Impulsgeber oder Innovationstreiber der Professionalisierungsbewegungen im Feld. D.h. wir spüren Trends und Bedarfe auf und transformieren diese in passgenaue Weiterbildungsangebote und setzen damit Themen. Bei diesem Vorhaben sind wir nicht allein auf uns gestellt, sondern wir können auf ein gewachsenes Netzwerk an professionellen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern zurückgreifen. Mittel- und langfristig sehe ich uns durchaus auch in der Rolle eines "Serviceinstituts" für Erwachsenenbildungsinstitutionen – insbesondere auch in den Megathemen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Diversität.

 

Außerdem sind wir ein etablierter Tagungsbetrieb mit hohen Qualitäten in den Bereichen Veranstaltungsorganisation, Nächtigung und Kulinarik. Schließlich haben wir – was leider häufig übersehen wird – eine bestens sortierte Fachbibliothek. Beide Bereiche sind wichtige Säulen des bifeb.

Durch die Coronapandemie und die damit einhergehende Beschleunigung von Digitalisierung – Stichwort Live-Online-Unterricht – stehen Bildungshäuser vor der Herausforderung, den Mehrwert von Veranstaltungen und Treffen in Präsenz neu zu bestimmen, bzw. ihre Rolle als Online-Bildungsanbieter zu finden. Wie könnte sich das bifeb als Tagungsort hier in Zukunft positionieren?

Das ist eine schwierige Frage *lacht*. Ich denke wir müssen aufhören, in den Kategorien "Präsenz" und "Digital" zu denken. Analoge und digitale Realitäten vermischen sich im Alltag, es wird immer schwieriger da klare Trennlinien zu ziehen. Diese Entwicklung ist nicht unkritisch zu sehen, aber sie beinhaltet meines Erachtens auch das Potenzial, (wieder) einen ganzheitlichen Standpunkt einzunehmen. Rolf Arnold hat einmal – wahrscheinlich bewusst provokant – formuliert, es gäbe keine E-Learning-Didaktik, da die Fragen die alten seien: Wer sind meine Teilnehmenden? Was führt sie in dieses Lehr-Lernsetting? Was bringen sie an "Gepäck" mit – sei es Erfahrungen, Lerngewohnheiten, Interessen oder Bedürfnisse? Was wollen oder sollten sie wieder mitnehmen? Wie kann ich ihnen als Erwachsenenbildnerin oder Erwachsenenbildner dabei helfen? Und so weiter.

 

Zudem glaube ich nicht, dass es zukünftig darum geht, die Mehrwerte von Präsenzveranstaltungen neu zu definieren oder sich gezielt als Online-Bildungsanbieter zu positionieren. Es geht darum, unterschiedlichste Bildungsräume systematisch und vor allem didaktisch begründet zusammenzuführen und zu verschmelzen. Das eine kann nicht mehr ohne das andere existieren. Ich glaube sogar, dass der Begriff des hybriden Settings zukünftig eher noch eine funktionale Ausweitung erfahren wird: Klassische Lernräume mischen sich mit informellen Orten, mit Ruheräumen, mit kooperativen oder kollaborativen Spielarten, mit performativen und kreativen Settings, mit diversen Medien als auch Technologien und in logischer Schlussfolge werden sich damit einhergehend natürlich auch die Lernenden- und Lehrendenrollen verändern.

Was heißt das für das bifeb?

Für das bifeb ergeben sich hierdurch neue Chancen. Digitale Lerninfrastruktur kann uns z.B. für bestimmte Zielgruppen besser erreichbar machen. Gleichsam werden wir unseren Standortvorteil – das bifeb als Ort des "Heraustretens" aus täglichen Routinen, als Ort des Lernens und des Diskurses, der (Rück-)Besinnung und der Reflexion – nicht aufgeben. Gerade nach über zwei Jahren Coronapandemie gibt es bei vielen eine "Zoommüdigkeit" und die meisten Teilnehmenden freuen sich darauf, endlich wieder auch vor Ort am bifeb sein zu dürfen – und wer kann es Ihnen unter anderem angesichts dieser Naturkulisse verübeln *lacht*.

Lieber Dennis, vielen Dank für das Gespräch, für die interessanten Ansätze zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis in der Erwachsenenbildung, der Rolle des bifeb dabei und darüber hinaus. Ich wünsche dir viel Erfolg in deiner Funktion als Leiter des bifeb und bin zuversichtlich, zugleich gespannt auf die weitere Entwicklung des Hauses!

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