Vernetzung und Stärkung der Bildungs- und Berufsberatung
Die Beratungslandschaft ist derzeit geprägt von einer hohen Dynamik
Moderatorin Hermine Steinbach-Buchinger erfragte im Eröffnungsgespräch mit dem vierköpfigen Tagungsteam Hintergründe zur Tagung. Ingeborg Melter vom bifeb stellte dabei das Tagungskonzept vor, das aus der Lust „etwas Neues auszuprobieren" entstanden ist. „Wir wollten weg vom Monolog – hin zum Diskurs, und zu einer stärkeren Selbstreflexionsorientierung und Entschleunigung", so Melter. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie Migration nach Österreich, der angespannte Arbeitsmarkt sowie geringer werdende Förderbudgets und komplexere Abwicklungsformalitäten haben seit der letzten Tagung 2016 eine neue Dynamik in die Beratungsszene gebracht. Diese stellt laut Vernetzungsexpertin Erika Kanelutti-Chilas „hohe Anforderungen an die Beratenden und führt vielfach zu Erschöpfung der BeraterInnen." Beratungsexpertin Marika Hammer stellt die Kernfrage der Tagung in den Mittelpunkt ihres Statements: „Was sind die Wirkfaktoren für mein beraterisches Handeln und wie bewegen wir uns in diesem Spannungsfeld?". Die Rolle der BildungsberaterInnen befindet sich derzeit in einem großen Wechsel - von ExpertInnen hin zur BefähigerInnen und VeränderInnen", wie Gerhard Krötzl vom BMBWF erklärt.
Die Millenials tragen die Last der Globalisierung und des Ökonomiedenkens
Ausgangspunkt für die diesjährige Tagung war der gesellschaftskritische Vortrag des maltesischen Soziologen und Bildungswissenschaftlers Ronald G. Sultana bei der Tagung 2016 über Diskurse zur Laufbahnberatung. Sultana richtete dieses Jahr in einer Videobotschaft einen Apell an die BeraterInnen, sich in ihrem Tun der sozialen Gerechtigkeit zu verpflichten. Wir leben in einer flüchtigen Welt, was die Herausforderungen und die Komplexität für das Individuum laut Sultana erhöhe. Es komme zu einer zunehmenden Globalisierung und „Vermarktlichung" von Funktionen, die früher dem Staat oblagen, was zur Tendenz führe, das möglichst reibungslose Wirken der Ökonomie über alles Andere zu stellen. Die Folge ist, dass zahlreiche - auch gut ausgebildete und junge Menschen (die Millenials) - gar keine Arbeit, oder nur Teilzeitstellen finden und bereits die Last ausbildungsbedingter Schulden tragen.
Neue Denkansätze in der Beratung wurden entwickelt
Auf Basis des Textes „Laufbahnberatung und der Gesellschaftsvertrag in einer flüchtigen Welt" von Ronald Sultana entstanden im Open Space zahlreiche Kleingruppen, die den Diskurs über das Verhältnis der Beratungspraxis zu den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Teilnehmenden thematisierten. So wurden Gespräche über das Selbstverständnis der BildungsberaterInnen, eine notwendige Neudefinition des Begriffs der Erwerbsarbeit, alternative Beratungsangebote oder spirituelle Aspekte in der Beratung geführt. Auch Möglichkeiten des Empowerment auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, wie das Projekt BORA aus Tirol, das am Arbeitsmarkt benachteiligte Personen beim Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unterstützt, wurden diskutiert.
Vokalkünstler Robert Pakleppa regte die Teilnehmenden immer wieder mit seinen Circle Songs dazu an, stimmlich und körperlich miteinander in Bewegung zu kommen. „Das Singen im Circle, im Kreis, ist musikalische Kunst und zugleich ein Sinnbild für die dialogische Art der Begegnung, in der das voneinander Lernen und miteinander Ko-kreieren ins Zentrum rückt", so Pakleppa.
Habitusreflexive Beratung: Familiäre Lernprozesse als Ressource für Beratende
Bildungswissenschaftlerin Susanne Maria Weber von der Philipps Universität Marburg beleuchtete in ihrer Keynote den „wirkmächtigen" Organisationskontext in dem Bildungsberatung stattfindet. S. Weber stellte das Projekt „Entrepreneuresse" vor, das Faktoren erfolgreicher Unternehmensgründungen von Frauen untersucht. Aus diesem Projekt hat Weber den Beratungsansatz „Habitusreflexive Beratung im Gründungsprozess" entwickelt, der die Potenziale der Frauen, die ihnen über Bildungsprozesse in der Herkunftsfamilie erwachsen sind, in den Mittelpunkt stellt. Weber plädierte dafür, in der Beratung vermehrt mit Bildern und kreativen Prozessen zu arbeiten, um die Phantasie der Beratenen anzuregen und deren Handlungsspielräume zu vergrößern.
Die Anliegensklärung als zentrale Weichenstellung im Beratungsprozess
Beratungswissenschaftler Peter Weber von der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim stellte in der zweiten Keynote mit dem von ihm entwickelten "systemischen Kontextmodell" einen Bezug zum innersten System des Beratungsprozesses (Beratende / Beratene / Organisation) her, das insbesondere in der Anfangssituation von Beratung wirkt. „In der Bearbeitung des Anliegens spiegeln sich alle zentralen Merkmale der Beratung wieder! Das Anliegen wird sozusagen co-konstruiert. Es hängt davon ab, was wir hören, sehen und zulassen" so Weber. Weber zeigte auf, wie der gesellschaftliche und organisationale Kontext, in den Beratungsprozesse eingebettet sind, auf Beratung wirkt. Er regte die Teilnehmenden an, darüber zu reflektieren, aus welchen Quellen oder „Aufmerksamkeitsstrukturen" das Handeln in der Beratung entspringt und wie sich bei einer Veränderung des Denkens auch der Beratungsprozess qualitativ verändert. Weber ermutigte die Teilnehmenden, die eigenen Grenzen und Logiken zu überschreiten und damit im Beratungssystem Räume zu öffnen für das, was noch nie da war bzw. notwendig ist.
Webers Kontextmodell wurde in einer „Aufstellungsminiatur", die eigens für die Tagung entwickelt wurde, von den Teilnehmenden anschließend nachgestellt, so dass sie die Wirksysteme des eigenen beraterischen Handelns selber erfahren konnten. Im Wirkungskreis gaben die TeilnehmerInnen dann dem Tagungsplenum in einem „Zwiegespräch" zwischen Gesellschaft und Organisation ihre Gedanken und Erkenntnisse auf dem „heißen Stuhl" weiter.
Inspiration für Neues in der Beratungsszene
Keynotespeaker Peter Weber aus Mannheim resümiert in einem Interview die Tagung wie folgt: „Die Art der Vernetzung, wie sie hier in diesen beiden Tagen stattgefunden hat, ist ein zeitgemäßes informelles Format, um Menschen zu organisieren - ohne hohe Verbindlichkeiten. Dies macht den Charme der Veranstaltung aus". In der Schlussrunde wiesen die Teilnehmenden darauf hin, wie wichtig die Vernetzung und Stärkung der Identität der BildungsberaterInnen sei, um die aktuellen Herausforderungen besser zu bewältigen. Die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen fassen den innovativen Ansatz der Tagung wie folgt zusammen: „Es hat sich in einer entspannten Atmosphäre ein innovativer Geist und eine Inspiration für Neues in der Beratungsszene entwickelt".
Die nächste Fachtagung Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung wird vom 23. bis 24.04.2020 am bifeb stattfinden.
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