Präsenz oder Online? Diese Frage wird jetzt akut
Sicherheitshalber alles online?
Auf den ersten Blick täte man jetzt gut daran, alles in den vergleichbar sicheren Onlineraum zu verlagern. Wer möchte sich schon im Kursraum mit Masken gegenübersitzen und in den Pausen einen Bogen umeinander machen – oder gar eine kurzfristige Absage riskieren? Also sicherheitshalber online. Aber so einfach ist das nicht, oder zumindest nicht für alle. Längerfristig resultieren aus den bestehenden Geschäftsmodellen auch Sachzwänge (z.B. bei den Beherbergungsbetrieben der Bildungshäuser) – und es gibt institutionelle Traditionen ebenso wie persönliche Umstände, die eine derart pragmatische Lösung erschweren.
Der Leitmedienwandel und die Verteidigung der Präsenzlehre
Die beinahe 6000 UnterzeichnerInnen des offenen Briefs zur Verteidigung der Präsenzlehre an den Hochschulen dokumentieren den Wunsch nach einem Festhalten am Face-to-Face Format. Argumentiert wird hier vor allem damit, dass im Onlineraum echte Begegnung mit Kollaboration und Netzwerkbildung ebenso wie kollektives Arbeiten und ein Austausch im Gespräch nicht möglich seien. Diese Annahme hält sich hartnäckig.
Tatsächlich sind Online-Netzwerke und Online-Begegnungsräume weniger hoheitlich steuerbar als Präsenzräume. Allerdings sagt die Forschung: Das dominante Medium beeinflusst die Wahrnehmungs- und Kommunikationsgewohnheiten ebenso wie die sozialen Praxen einer Gesellschaft, das meint etwa Marshall McLuhan. Der Leitmedienwandel fordert überall neue Rollen und bringt Machtverschiebungen, die nicht allen entgegenkommen. Blickt man in der Geschichte zurück, kann man sich die Reaktionen der klösterlichen Schreibstuben auf die Einführung des Buchdrucks vielleicht ähnlich vorstellen.
Das Kostbarste an der Verteidigung der Präsenzlehre ist die ernsthafte Frage, was denn den Präsenzunterricht auszeichnet und wann er (auch bei echter Kenntnis der Online-Möglichkeiten) wirklich unverzichtbar ist. Dass Gespräche und Gruppenarbeiten in jeglicher Konstellation, Dauer und unterschiedlicher Strukturiertheit auch online möglich sind, ist ja erwiesen – und das Wissen darüber verbreitet sich gerade sehr rasch. Wir alle sind Präsenzlehre als Norm gewohnt, aber als Argument für das Festhalten an Präsenz reicht das nicht.
Wann ist Präsenz ein Risiko wert?
Was macht es nötig, gemeinsam an einem Ort zu sein, auch um den Preis ein Gesundheitsrisiko einzugehen? Und was bringt Präsenz in diesen Fällen – was würde man mit ihr anfangen, was online nicht geht? Diese Frage ist mit einer nie dagewesenen Ernsthaftigkeit zu erforschen und zu beantworten, denn sie ist die Grundlage von Entscheidungen mit potenziellen Gesundheitsfolgen. Welche exklusiven Möglichkeiten der physischen Präsenz sind uns ein gesundheitliches Risiko wert?
Die Inhaltstheorien der Motivationspsychologie legen da eine Antwort nahe, nämlich: Berührung, also physischer Körperkontakt. Berührung ist aber in den meisten Angeboten der Erwachsenenbildung gar nicht vorgesehen. Die Expertin für digitale Bildung Anja C. Wagner schlussfolgert: Nur wenn diese Frage ganz klar beantwortet ist, dann sollte man sich treffen, den Rest sollte man digital erledigen, erklärt sie in ihrem Podcast.
Was geht nur in Präsenz, und was geht nur online?
Das Präsenzlernen spielt generell überall dort seine Stärken aus, wo die Unmittelbarkeit des Erlebens mit allen Sinnen Bedingung des Lernens ist und nicht durch ein Medium ungefiltert oder verformt übertragen werden kann. Allerdings: Sehen und Hören funktionieren medial oft besser als unvermittelt. Taktile Reize sind grundsätzlich schon übertragbar, wenn auch nur mit hohem technischen Aufwand. Nur beim Riechen und Schmecken hapert es noch ganz grundlegend. Kurse für Aromatherapie und Weinverkostung sind in reiner Onlineform noch undenkbar. Auch der direkte Augenkontakt gestaltet sich online nicht ganz so einfach – und informelle Begegnungen finden in Präsenzräumen viel natürlicher statt als im Onlineraum, wo sie bisher technisch inszeniert werden müssen.
Andersherum lohnt diese Frage genauso: Was wäre es denn (außer dem zuverlässigen Ansteckungsschutz), das nur online möglich ist? Digitale Formate spielen ihre Stärke unter anderem in der raschen Generierung von Materialien zum Weiterlernen aus. In Webinaren beispielsweise entstehen zurzeit laufend neue Artefakte. Dazu gehören die typischen Linklisten aus dem Chat ebenso wie Word Clouds, kollaborativ entstandene Texte, Abstimmungsergebnisse usw., die in einer speicherfähigen Form gemeinsam erzeugt werden - weil ohnehin alle gerade an einem Arbeitsgerät sitzen, das sie bedienen. Vieles davon könnte man auch im gemeinsamen Kursraum per Smartphone produzieren; das geschieht aber in der Praxis nur selten. Dazu kommt als Stärke der Online-Formate ihre Erreichbarkeit und damit auch ihre Reichweite, Größe und potenzielle Zusammensetzung.
Lernräume jetzt verantwortungsbewusst auswählen
Hochqualitative Interaktion, auch Begegnung und Zusammenarbeit sind in Onlineraum längst möglich – und üblich. Schon seit dem vorigen Jahrtausend gibt es Technologien und Seminare für gelungene virtuelle Zusammenarbeit, und zahlreiche Berufsgruppen empfinden es als ganz normal, dass die Telekommunikation den Kern und nicht den Zusatz in der Interaktion bildet. Die visuelle und auditive Repräsentation von Gegenständen des Lernens ist längst selbstverständlich.
Im Herbst 2020 mit seinen spezifischen Unsicherheiten geht es darum, die Vorzüge und Besonderheiten von Präsenz- und Online-Räumen noch genauer als bisher zu kennen und den Mut zu haben, die eigene Komfortzone zu verlassen.
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