"Basisbildung erhöht die Handlungsfähigkeit"

CONEDU: Ist es sinnvoll, Menschen mit Basisbildungsbedarf in den Diskurs miteinzubeziehen? Und wie wäre dies möglich?
Silvia Göhring und Martin Leitner: "Der Diskurs" wird selten von den Menschen geführt, die er betrifft. Personen aus an den Rand gedrängten Gruppen sind damit meist auch überfordert. Erzählungen von Teilnehmenden an Basisbildung sind bzw. wären aber ein wichtiger Beitrag - auch im Diskurs. Sie würden zeigen, was hinter Zahlen und Statistiken steckt und wie es möglich ist, dass in einem Land wie Österreich mit seiner Schulpflicht Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben lernen.
Nicht zuletzt würden wir etwas über das Lernen, wie es erlebt wird und wie es nicht sein soll, erfahren. Bei vielen hat es schlechte Lernerfahrungen gegeben. Wir begegnen nun jedoch Erwachsenen, die mitten im Leben stehen, Fähigkeiten und Kenntnisse haben. Demnach hätten sie auch viel zu sagen.
Es braucht aber die Voraussetzung bzw. Einladung dazu, dass sie darüber erzählen können, dass nicht hegemonial mit der Materie umgegangen wird. Dies kann als Form der Diskursbeteiligung verstanden werden. Es heißt aber auch, dass die Verantwortung am Diskurs immer zunächst bei jenen liegt, die in politsicher und strategischer Verantwortung stehen. Sie sind es ja auch, die über Entscheidungsmacht verfügen.
Wäre es von Vorteil, wenn Lernende Basisbildungsprogramme mitgestalten? Wie wäre dies möglich und in welchem Ausmaß?
Wenn wir von unserem Defizitblick absehen und gemeinsam das Erworbene, Erfahrungswissen etc. sichtbar und benennbar machen, ist das eine gute Basis für die Gestaltung des Bildungsangebotes. Zwei Voraussetzungen erachten wir für das Gelingen von Basisbildung wichtig: Die freiwillige Teilnahme und die Mitgestaltung durch alle Beteiligten.
Wichtig dabei ist, entsprechende Voraussetzungen für diesen Beteiligungsprozess zu schaffen und eine gemeinsame Vorgehensweise auszuverhandeln. Dabei spielen Beziehungs- und Vertrauensaspekte eine starke Rolle. Auch in diese muss investiert werden, sie entstehen keineswegs automatisch. Einbindung beginnt noch vor dem ersten Tag.
Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der Qualität der Erstinformation und in weiterer Folge mit Fragen des Umgangs mit Diversität, Gleichstellung etc. in einer erwachsenengerechten Bildungsform. Dazu zählen Methoden, Haltungen, Handlungen, welche den TeilnehmerInnen verdeutlichen, dass eine laufende Formulierung des Eigenen erwünscht ist. Abschließend sei sehr einfach gesagt, dass es ohne tatsächliche Mitgestaltungsmöglichkeiten an sich gar nicht geht.
Welche Auswirkung hat es auf die Lernenden, wenn sie in die Gestaltung der Bildungsangebote einbezogen werden?
Wenn es in Basisbildung um mehr geht als um die Vermittlung von Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben etc., wenn also auf Partizipationsmöglichkeiten gesetzt wird, dann kann sie durchaus Effekte erzielen, wie sie als Elemente von (politischer) Partizipation verstanden werden dürfen.
Abgesehen davon, dass durch eine respektvolle Hinwendung zu vorhandenen Kompetenzen und ihre Verdeutlichung durch den Bildungsprozess echtes Empowerment möglich wird, erfahren die TeilnehmerInnen, dass ihre Themen von Relevanz sind, auch für andere in der Gruppe.
Sie erleben sich als formulierende und somit auch als für eigene Anliegen kompetente Personen. Sie werden aufgefordert, Fragen zu stellen, dem eine Auseinandersetzung mit einer Thematik vorangeht. Sie sind auch damit beschäftigt, eigene Positionen zu formulieren und sich mit jenen anderer Gruppenmitglieder auseinanderzusetzen.
Welche Beispiele guter Praxis gibt es, bei denen Menschen mit Basisbildungsbedarf selbst aktiv werden/wurden?
ISOP hat u.a. das ESF-geförderte Basisbildungsangebot "Im Fordergrund lernen" umgesetzt und in diesem Entwicklungsprojekt besonders auf Mitgestaltungselemente gesetzt. Als Einstiegsmodul wurde eine sogenannte Basisgruppe organisiert. Hier wurden die TeilnehmerInnen mit der Projektmethodik vertraut gemacht. Insbesondere wurden aber vorhandene Kompetenzen erarbeitet, benannt und somit sichtbar gemacht, in erster Linie von den TeilnehmerInnen selbst.
Diese Phase wurde damit abgeschlossen, indem die teilnehmenden Frauen und Männer ihre eigenen Lernwünsche formuliert und sie einen, ihren Zielkontext mitgedacht haben. Darüber hinaus hat das Umsetzungsteam in der Folge sehr bedarfsorientierte Lerngruppen organisiert, an denen unterschiedlich dicht partizipiert werden konnte.
Weiters haben regelmäßig immer wieder neue Planungs- und Mitgestaltungsformen stattgefunden. Diese ermöglichten einen Austausch zwischen den TeilnehmerInnen sowie die Formulierung neuer Lernthemen und -ziele. Es ist schön, heute z.B. sagen zu können: Herr XY hat 2014 an "Im Fordergrund lernen" teilgenommen und ist heute Mitarbeiter der Firma YZ.
Kann Basisbildung die Handlungsfähigkeit und die gesellschaftlich-politische Teilhabe der Lernenden fördern?
Basisbildung kann das unter bestimmten Voraussetzungen. Sie darf in ihren Möglichkeiten aber auch nicht überschätzt werden. Natürlich erhöht sie immer die Handlungsfähigkeit der TeilnehmerInnen, insbesondere aber dann, wenn, wie dargestellt, eine Auseinandersetzung mit Themen gefördert wird.
Die alleinige Vermittlung der Fertigkeit Lesen heißt noch nicht, dass auch eine kritische Beschäftigung mit einem Text erfolgt. Erst eine solche, um in diesem Beispiel zu bleiben, würde eine gesellschaftlich-politische Teilhabe fördern.
Was brauchen TrainerInnen, um die TeilnehmerInnen bei der Entwicklung von Handlungsfähigkeit bestmöglich unterstützen zu können?
Das Projekt "Im Fordergrund lernen" haben wir ja bereits kurz erwähnt. Folgendes ist in diesem Zusammenhang aber vielleicht noch wichtig zu erwähnen: TrainerInnen der Basisbildung wie insgesamt pädagogisches Personal, das mit bildungsbenachteiligten Menschen beschäftigt ist, müssen jene Kompetenzen (weiter-)entwickeln, welche die Grundlage für eine partizipatorisch angelegte Basisbildung darstellen.
Im Projekt "Werkstatt Basisbildung" beschäftigen wir uns aktuell gerade mit diesem Professionalisierungsschritt von Basisbildung. Wie eine diskriminierungsfreie und rassismuskritische Basisbildung gestaltet werden kann, ist eine der zentralen Leitfragen, die wir hier behandeln.
Auch hier setzen wir, wie in der Basisbildung selbst, auf implizit vorhandenes Wissen sowie Erfahrungskompetenz, diesmal aber bei den TrainerInnen. Dieses Wissen und diese Kompetenz deutlich gemacht und in eine Auseinandersetzung mit anderen gebracht, ermöglichen nachfolgend bewusste Handlungsschritte.
Silvia Göhring und Martin Leitner
Martin Leitner ist langjähriger Mitarbeiter in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern bei ISOP, schwerpunktmäßig in der Arbeitsmarkt- und Bildungsberatung von Menschen nicht österreichischer Herkunft sowie in (Basis-)Bildungsangeboten für bildungsbenachteiligte Frauen, Männer und Jugendliche. Außerdem ist er Mitentwickler des Basisbildungsangebotes Im Fordergrund lernen und derzeit für die Werkstatt Basisbildung zuständig (beides esf und BMB)
Silvia Göhring ist bei ISOP für den Fachbereich Projektentwicklung und Innovation zuständig sowie Projektleiterin verschiedener (Basis-)Bildungs- und Beratungsprojekte.
Serie: Basisbildung und Öffentlichkeit
Am Rande der Gesellschaft stehend: so werden Menschen dargestellt von denen wir meinen, dass sie Basisbildung brauchen. Wenn wir über Basisbildungsbedarf diskutieren, stehen uns diese Stigmatisierung und die damit einhergehenden negativen Zuschreibungen oft im Weg. Mit dem Themenschwerpunkt "Basisbildung und Öffentlichkeit" auf erwachsenenbildung.at will die Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Bildung im Herbst 2017 den Anstoß zur Auseinandersetzung mit diesem Thema geben. In einer Serie von Beiträgen kommen ExpertInnen in Interviews, wEBtalks und Artikeln zu Wort. Alle bisher zur Serie #baböff erschienenen Beiträge finden Sie hier.
Die Serie ist Teil eines Projekts des BMB mit Förderung aus Mitteln der Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA).

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