Solidarität als Lernziel der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit

Die Bildungstheoretikerin Eva Borst definiert in ihrem sehr inspirierenden Vortrag im Rahmen der Tagung „...und raus bist DU!?" solidarisches Handeln als Transferleistung, deren Voraussetzung eine „Entfremdung von sich selbst und seinen eigenen Interessen" ist. Somit ist Solidarität eine kulturelle Errungenschaft, die gelernt und erfahren werden muss. Dazu gibt es aber in einer Gesellschaft, in der Wettbewerb und Erfolg zu Leitwerten erkoren worden sind, immer weniger Gelegenheit. Schon das Schulsystem ist vom Konkurrenzprinzip durchzogen, Eva Borst stellt die These auf: „Solidarität wird in Bildungseinrichtungen nicht mehr erfahren und sie wird auch nicht gelernt." Im Arbeitsleben setzt sich Leistungsdruck und Konkurrenzdenken nahtlos fort.
Obwohl und gerade weil wir Eva Borsts These grundsätzlich teilen, bemühen wir uns nach Kräften, im Rahmen der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung gegenzusteuern. Wir versuchen, Solidarität auf allen Ebenen unserer Bildungsarbeit zu verankern und sie so lern- erleb- und erfahrbar zu machen.
Solidarität als Ziel
Solidarität ist vermutlich das wichtigste Ziele gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. Im Vordergrund der Lernprozesse steht nicht so sehr die individuelle Weiterentwicklung der TeilnehmerInnen, sondern ihre Weiterentwicklung als BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen. TeilnehmerInnen lernen nicht für sich selbst, sondern im Interesse ihrer Belegschaften und darüber hinaus aller Arbeitskräfte – zu Ende gedacht weltweit. Im Zentrum steht nicht die Frage „Wie kann ich mich voranbringen?", sondern „Wie können wir gute Arbeits- und Lebensbedingungen für alle erreichen?" Dafür bedarf es der Fähigkeit, konkrete Problemstellungen im eigenen Umfeld zu analysieren, Strategien zur Problemlösung zu erarbeiten sowie diese in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Der Horizont darf nicht am eigenen Tellerrand bzw. Betrieb enden, sondern muss weit darüber hinaus gehen.
Die leitende Fragestellung „Wie können wir gute Arbeits- und Lebensbedingungen für alle erreichen?" verbirgt darüber hinaus einen weiteren Faktor, der Grundbedingung und Ziel von Solidarität gleichzeitig ist: Wie können wir etwas erreichen – es geht also darum, gemeinsam für etwas einzustehen. Dazu benötigt es einerseits die Einsicht: Nur gemeinsam sind wir stark. In einer Zeit, in der es als Schwäche angesehen wird, etwas nicht alleine erreichen zu können, ist schon das keine Selbstverständlichkeit. Das Selbstbild des sich selbst optimierenden homo oeconomicus ist in uns allen tief verankert, die Erkenntnis, alleine herrschende Machtverhältnisse nicht beeinflussen oder gar verändern zu können kann daher schmerzhaft sein.
Für das konkrete solidarische Tun bedarf es darüber hinaus vielfältige Kompetenzen: Einfühlungsvermögen, um sich in die Situation anderer versetzen zu können; Toleranz, um andere Interessen und Zugänge als gleichwertig akzeptieren zu können; Kommunikationsfähigkeit, um sich auf gemeinsame Ziele und Strategien einigen zu können; Organisierungskompetenz, um Zusammenhalt herzustellen und zu mobilisieren...
Die Entwicklung dieser Fähigkeiten und Haltungen ist das oberste, bestimmende Ziel aller gewerkschaftlichen Bildungsangebote. Und nur durch vielfältiges Diskutieren, Erfahren und Erleben auf unterschiedlichsten Ebenen kann diese Entwicklung gelingen.
Solidarität als Inhalt
Verschiedene Aspekte von Solidarität wie Verteilungsgerechtigkeit, Gleichstellung von Frauen und Männern oder der Abbau von Diskriminierungen werden in zahlreichen Angeboten der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung thematisiert. Darüber hinaus spielt Solidarität aber auch in allen anderen Seminaren eine bestimmende Rolle: Gewerkschaftliche Bildung ist interessengeleitete Bildung und orientiert sich ganz klar an den Interessen der Arbeitskräfte. Insofern werden auch scheinbar neutrale Themen wie rechtliche oder wirtschaftliche Themenstellungen aus einem interessengeleiteten und solidarischen Blickwinkel bearbeitet. Bildung ist grundsätzlich niemals neutral – gewerkschaftliche Bildungsarbeit aus Prinzip nicht.
Solidarität in der Struktur
Auf struktureller Ebene bedeutet Solidarität, dass der Zugang zu gewerkschaftlicher Bildung so niedrigschwellig wie möglich gehalten und eine Teilnahme so stark unterstützt wie möglich wird. Die wichtigste Grundlage dafür ist eine rechtliche: Laut Arbeitsverfassungsgesetz haben alle Betriebsratsmitglieder während der fünfjährigen Funktionsperiode Anspruch auf drei Wochen und drei Arbeitstage Bildungsfreistellung. Sie müssen sich also nicht in ihrer Freizeit weiterbilden und auch keine Urlaubstage dafür aufwenden. Die Funktion als Betriebsrätin oder Betriebsrat sowie die Gewerkschaftsmitgliedschaft sind aber die einzigen Voraussetzungen für die Teilnahme an gewerkschaftlichen Bildungsangeboten. Vorkenntnisse oder gar irgendwelche Bildungsabschlüsse spielen keinerlei Rolle.
Um die Anreise möglichst kurz zu halten gibt es in allen Regionen Österreichs zahlreiche Angebote, Barrierefreiheit und Kinderbetreuung bei Bedarf sollen die Teilnahme erleichtern, Teilnahme- und Aufenthaltskosten fallen für TeilnehmerInnen nicht an, sondern werden durch Gewerkschaften und Arbeiterkammern getragen. Darüber hinaus werden BetriebsrätInnen von Seiten der Gewerkschaften aktiv dazu ermutigt, an Seminaren und Lehrgängen teilzunehmen. Die erste Hürde ist oft hoch, insbesondere für lernungewohnte Menschen, doch die Erfahrung zeigt: Wer einmal teilgenommen hat, kommt immer wieder.
Solidarität als didaktisches Prinzip
Die beschriebene Offenheit des Zugangs bringt eine besondere Herausforderung mit sich: Sehr heterogene Gruppen, mit ganz unterschiedlichen regionalen, kulturellen, betrieblichen und branchenspezifischen Hintergründen, verschiedensten Bildungsbiographien, Kompetenzen und Lebensstilen. Da kommt es vor, dass eine Akademikerin aus einem Forschungsinstitut und ein Lagerarbeiter aus einem Industriebetrieb miteinander im Seminar sitzen.
Mit derart heterogenen Gruppen nicht nur umgehen, sondern sie als Chance und wertvolle Ressource sehen und zum Nutzen aller aktivieren zu können, erfordert ein subjektorientiertes Lernverständnis, bei dem die TeilnehmerInnen mit ihren jeweils unterschiedlichen Erwartungen, Zielen und Erfahrungen im Zentrum des Lernprozesses stehen. Damit einher geht das Verständnis einer prinzipiell gleichberechtigten Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, wo nicht Unwissende von ExpertInnen belehrt werden, sondern für konkrete Probleme und Anforderungen gemeinsam konkrete Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Miteinander und voneinander lernen ist das bestimmende Prinzip gewerkschaftlicher Bildungsarbeit.
Diese TeilnehmerInnenzentriertheit wirkt sich unmittelbar auf die Auswahl der Methoden aus, durch die ein aktiver Lernprozess gestaltet und unterstützt wird. Darüber hinaus kann aber auch das Erleben von Solidarität durch die Wahl der Methoden bewusst gesteuert werden – es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob auf Kooperation oder auf Konkurrenz aufbauende Aktivierungsübungen und Gruppenarbeiten eingesetzt werden.
Bei der Auswahl der TrainerInnen sind eine prinzipielle Verbundenheit mit der Gewerkschaftsbewegung sowie eine dezidiert antisexistische und antirassistische Haltung Grundvoraussetzungen. Darüber hinaus wird aber das größte Augenmerk auf die Anforderungen des didaktischen Konzepts gelegt. Da Meisterinnen und Meister aber bekanntlich nicht vom Himmel fallen, steht allen TrainerInnen und ReferentInnen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mit der VÖGB / AK ReferentInnen Akademie eine an den konkreten Erfordernissen orientierte Weiterbildung zur Verfügung. Der Umgang mit heterogenen Gruppen oder das solidarische Potential von Methoden werden in Seminaren behandelt, die immer auch Raum für Reflexion und Austausch bieten. Der REFAK-Blog unterstützt TrainerInnen und ReferentInnen, indem er Materialien, Methoden und sonstige Ressourcen zur Verfügung stellt. Ganz im Sinne der Solidarität ist dieser Blog auch öffentlich zugänglich...
Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung in der Erwachsenenbildung
In welcher Gesellschaft wollen wir miteinander leben? In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und demokratischer Erosion ist diese Frage für Erwachsenenbildung von steigender Bedeutung. Mit freiem Auge erkennen wir die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen, die von einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft zeugen. Wie wir leben wollen ist eine Frage, die beim Umgang mit uns selbst und unseren Nächsten anfängt, aber bei weitem nicht dort endet. In postdemokratischen Zeiten stehen die Verhältnisse, Strukturen und Exklusionsmechanismen mindestens ebenso sehr zur Verhandlung, wie humanistische Wertvorstellungen und Aufklärungsideale. Ein Blick, den uns das "Bildungsevangelium" als Erzählung vom persönlichen Erfolg durch Bildung immer wieder verstellt. Alle bisher zur Serie #ebsoli erschienen Beiträge finden Sie hier.

Verwandte Artikel
(Basis)Bildung und Empowerment für politische Partizipation
Das Projekt B.E.E.P. (Basic Education and Empowerment for Political Participation) hat die Förderung der (politischen) Teilhabe aller an der Gesellschaft zum Ziel.Bis 17. September für den Österreichischen Inklusionspreis 2023 bewerben
Projekte und Initiativen, die Menschen mit Behinderungen Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen, werden mit dem Inklusionspreis geehrt.ÖVH-Ausgabe über Teilhabe und Inklusion erschienen
Die aktuelle Ausgabe des Magazins "Die Österreichische Volkhochschule" ist als Print und digital verfügbar. In den Beiträgen geht es u.a. um inklusives Lernen, Kurse für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oder Behinderung sowie Bildungsangebote für Ehrenamtliche.BFI mit Benya-Preisen ausgezeichnet
Drei von insgesamt 20 Preisen des Anton-Benya-Stiftungsfonds zur Förderung der Facharbeit gingen letzte Woche an das BFI.Zum demokratischen Handeln anregen: Lehrgang "Wir bleiben im Gespräch"
Eine neue Initiative des Steirischen Volksbildungswerks stärkt die Demokratie auf Basis der Community Education. Der Lehrgang findet ab November statt.Women’s Integration Survey
Eine aktuelle Studie des AMS Österreich beleuchtet die Situation geflüchteter Frauen in Österreich. Sie zeigt u.a., dass niederschwellige Weiterbildung Integration fördert.