Lovestory - Solidarität in der Kunst

23.05.2017, Text: Judith Mantler, Redaktion: Renate Ömer, BhW Niederösterreich/Ring ÖBW
Judith Mantler von Basis.Kultur.Wien spricht im Interview mit Michael Scheidl über die netzzeit-Produktion „Liebe hoch 16“ (Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung).
Liebe hoch 16 | Foto: Nurith Wagner-Strauss
Foto: CC BY 4.0 Nurith Wagner-Strauss
„Liebe hoch 16" ist eine türkisch-österreichische Heimat-Musikkomödie vom Brunnenmarkt. Die Produktion wird im Rahmen des WIR SIND WIEN.FESTIVAL 2017 zu sehen sein.

 

Herr Scheidl, Sie sind der Regisseur von LIEBE HOCH 16. Die eigentliche Idee zu dieser türkisch-österreichischen Produktion stammt von Wolfgang Gratschmaier (Volksoper), das Buch stammt von dem in Österreich lebenden Kurden Ibrahim Amir. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

 

Mit Wolfgang Gratschmaier verbindet mich eine jahrzehntelange Freundschaft, die in unseren Karriere-Anfängen begann und uns nach getrennten Lehr- und Wanderjahren wieder zusammenführte: Wolfgang hat in meiner Inszenierung von Kreneks „Kehraus um St. Stephan“ 2010 bei den Bregenzer Festspielen und in der Volksoper mitgespielt und auch in der Uraufführung von Franz Koglmanns „JOIN!“ bei den Wiener Festwochen 2013. Seine Idee, eine Love Story am Brunnenmarkt mit Romeo-und-Julia-Assoziationen zu entwickeln, hat uns in der politischen Situation schon vor drei Jahren sehr interessiert. Als wir Ibrahim Amirs Komödie „Habe die Ehre“ im Theater Hamakom gesehen haben, wusste ich, mit welchem Autor ich dieses Buch erfinden muss.

 

Die Besetzung der türkischen wie auch der österreichischen Familie ist eine sehr authentische. Wie entstand das Ensemble?

 

Das waren viele Recherchen und viele, sehr genaue Castings. Und ein sehr sensibler Umgang mit allen, die sich dafür Zeit genommen haben. Ich hatte keine Ahnung, wie viele sehr gute DarstellerInnen mit türkischem Migrationshintergrund es in allen Genres in Wien gibt, mit erstklassiger Ausbildung! Das ist ein gewaltiges Potential, aus dem wir hier schöpfen konnten.

 

In den letzten Jahren produzierten Sie auch Theater explizit für Flüchtlinge, u.a. auf Farsi und Arabisch. Ist das Ihr Weg, auch diesen Gesellschaftsgruppen mehr Teilhaberechte und bessere Zugangschancen zum öffentlichen Diskurs zu gewähren?

 

Ja, sicher. Es ist offensichtlich nicht vorrangig Elfenbeinturm-Kunst. Das ist derzeit besonders wichtig - auch wenn das nicht immer gelten darf. Integration betrifft ja sowohl das Integrieren von unterschiedlichstem Publikum, als auch Teilnahme von KünstlerInnen und Integration von Themen, die aus anderen Kulturen kommen. Genauer gesagt, aus Kulturen, die uns auch in Wien umgeben. Und dieser Umstand bezieht sich nicht nur auf Flüchtlinge, sondern dazu gehören auch ÖsterreicherInnen mit Migrationshintergrund. Bei LIEBE HOCH 16 habe ich mich bei einigen TeilnehmerInnen mit türkischem Herkunftshintergrund wirklich gefragt, warum sie in ihrer Karriere noch nicht weiter sind. Vielleicht können wir mit diesem Projekt auch in dieser Hinsicht etwas bewegen.

 

Sind wir für Flüchtlinge verantwortlich? Was bedeutet Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts?

 

Da wir Teil des Systems sind, das jene Probleme maßgeblich mitverantwortet, die die meisten Fluchtbewegungen verursacht haben, sind wir auch Teil des Problems und müssen uns bemühen, zum Teil der Lösung dieser Probleme zu werden. Das Bewusstsein über globale Zusammenhänge und darüber, dass jeder Einzelne Mitverantwortung an Fluchtbewegungen trägt, sollte Europa vorleben. Ganz besonders auch für unser eigenes Wohlergehen. Jeder sollte wissen, dass eine Erhaltung unserer Lebensqualität in jeder Hinsicht nur so zu gewährleisten ist.

 

Kann die Kunst im Allgemeinen und das Theater im Besonderen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen?

 

Sie kann „nur“ ein emotionales und intellektuelles Bewusstsein für den lebensnotwendigen Wert von Kultur und respektvollem Umgang miteinander möglich machen, was dann Einfluss auf die Politik haben kann.

 

Wie bewegen Sie sich selbst in anderen Kulturen?

 

Mit dem Versuch respektvoller Neugier. Neugier bewahrt davor, Vorurteilen auf den Leim zu gehen.

 

Was haben Ihnen Reisen in doch ganz fremde Kulturen, wie zu den Yanomami in Brasilien, gebracht?

 

Die vermutlich einmalige Gelegenheit, meine eigene Kultur wirklich von außen betrachten zu können. Ich habe nicht über den Tellerrand geschaut, sondern von einem anderen Teller in meinen heimatlichen hinein. Da relativieren sich viele Werte, weil es woanders besser gemacht wird. Andererseits gibt es vieles, das ich mehr wertschätzen gelernt habe an der Kultur, aus der ich komme.

 

Bei LIEBE HOCH 16 wird auf sehr viele unterschiedliche, teils sehr komplexe Themen eingegangen! Was ist das Besondere an Ihrer Produktion?

 

Es geht um Toleranz auf den verschiedensten Ebenen und nicht bloß auf einer Ebene. Und damit um Toleranz überhaupt. Und um die Erkenntnis, dass Toleranz nichts ist, das einschränkt und einengt, sondern Spaß macht, bereichert und freier macht.

 

Die Aufführungen finden an sehr unterschiedlichen Orten in Wien statt. Welches Publikum wollen Sie ansprechen?

 

Der gesamte Aufbau des Projektes zielt darauf ab, verschiedenstes Publikum zu versammeln, das zum Gutteil noch nie nebeneinander saß: Türkische Marktarbeiter neben österreichischen Fans des Austropop, Opernliebhaber neben Rap- und Slam-Poetry-Anhängern, Konzerthausbesucher neben Menschen, für die türkische Volksmusik ebenso Heimat bedeutet, wie das Wienerlied für andere. Daher der Auftritt im Rahmen von WIR SIND WIEN auf Wiener Plätzen und Märkten, und daher die Zusammenarbeit populärer KünstlerInnen aus allen Genres. Alle haben mindestens eines gemeinsam: Sie leben und arbeiten in Wien.

 

Was war ein AHA-Effekt bei LIEBE HOCH 16? Ein besonderes Erlebnis während der Proben?

 

Das Zusammenholen von KünstlerInnen aus den verschiedensten Kulturen und Genres mit ganz divergierenden Herkunftsgeschichten führte zu einer extrem inspirierenden Arbeit, die besonders wenige Reibungsverluste aufwies. Ich vermute, es liegt daran, dass diese Geschichte lauter Menschen angezogen hat, die einfach gerne leben – und Wien zu schätzen wissen.

 

Wie geht es weiter?

 

Das wissen wir nicht. Denn das Neue ist unbekannt.

 

 

Über die Produktion

 

Eine Produktion von netzzeit 2017 out of control - Wiens Festival für Neues Musiktheater
Gefördert von Basis.Kultur.Wien im Rahmen des WIR SIND WIEN.FESTIVAL 2017

 

Basis.Kultur.Wien sieht sich als Veranstalterin und Initiatorin von Kunst- und Kulturprojekten und unterstützt als Dachverband über 300 Amateurvereine aus den Bereichen Bildung und Kultur.

 

Als vorrangigen Auftrag will Basis.Kultur.Wien die kulturelle Diversität und Bandbreite der Stadt Wien und ihrer BewohnerInnen fördern und sichtbar machen und stellt hier eine Schnittstelle zwischen Kulturinteressierten und Kulturschaffenden dar. Das Programmangebot bietet der Bevölkerung Wiens einen direkten und partizipativen Zugang und soll die Menschen damit an ihren verschiedenen Lebens- und Alltagsorten abholen.

 

Basis.Kultur.Wien setzt Impulse zur Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur und motiviert zur aktiven Teilnahme sowie kulturellen Weiterbildung. Als Handlungsmaxime gelten das respektvolle Miteinander von Menschen, die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen sowie Offenheit und Toleranz.

 

Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung in der Erwachsenenbildung

In welcher Gesellschaft wollen wir miteinander leben? In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und demokratischer Erosion ist diese Frage für Erwachsenenbildung von steigender Bedeutung. Mit freiem Auge erkennen wir die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen, die von einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft zeugen. Wie wir leben wollen ist eine Frage, die beim Umgang mit uns selbst und unseren Nächsten anfängt, aber bei weitem nicht dort endet. In postdemokratischen Zeiten stehen die Verhältnisse, Strukturen und Exklusionsmechanismen mindestens ebenso sehr zur Verhandlung, wie humanistische Wertvorstellungen und Aufklärungsideale. Ein Blick, den uns das "Bildungsevangelium" als Erzählung vom persönlichen Erfolg durch Bildung immer wieder verstellt. Alle bisher zur Serie #ebsoli erschienen Beiträge finden Sie hier.

Weitere Informationen:


Text: CC BY 4.0 Judith Mantler, auf erwachsenenbildung.at 2017

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