Vom ständigen Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln

12.03.2018, Text: Sylvia Scheidl, Netzwerk Bildungsberatung in Wien, Redaktion: Mira Nausner, Initiative Bildungsberatung - ÖSB Studien & Beratung
"Bildungsberatung in ambivalenten Zeiten" war das Thema der 5. Fachkonferenz der Bildungsberatung in Wien.
Foto: (C) Vancura/VHS
Von links nach rechts: Matthias Müller, Sylvia Scheidl, Wolfgang Bliem, Marie-Theres Euler-Rolle, Barbara Bräutigam, Michaela Moser, Michael Kimmel, Bettina Novacek, Mariella Greil, Helfried Faschingbauer, maRia Probst, Sabina Holzer
Foto: Alle Rechte vorbehalten, Vancura/VHS, auf erwachsenenbildung.at
Die Fachkonferenz stellte die Bildungsberatung in den Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche. Ausgangsfrage war, wie sie Menschen in „Zeiten wie diesen" sinnvoll unterstützen kann, in denen die Welt oft als unplanbar, mehrdeutig und ungewiss erlebt wird. Sie holte sich dafür Forschungen und Erfahrungen aus unterschiedlichen Fachbereichen in die Tagung.

 

Ziele der Fachkonferenz

Auch diesmal setzte die Fachkonferenz auf Austausch und Vernetzung bei den Teilnehmenden. In zwei Impulsvorträgen und vier Workshops wurden Modelle und Konzepte aus weit gestreuten Feldern vorgestellt. Ziel war, BildungsberaterInnen neue Ideen und Impulse zu geben, wie sie ihre KundInnen wirksam in ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit unterstützen können.

 

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Regina Barth, Leiterin der Abteilung Erwachsenenbildung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Durch den Tag führte Marie-Theres Euler-Rolle, langjährige Begleiterin der Bildungsberatung in Wien. Die Gesamtprojektleiterin Bettina Novacek stellte die Bildungsberatung in Wien vor und führte ins heurige Thema ein.

 

Nicht für den Arbeitsmarkt, für's Leben lernen wir!

In ihrem Eröffnungsvortrag stellte die FH-Professorin und Inklusionsforscherin Michaela Moser, vielen bekannt durch ihr Engagement in der österreichischen Armutskonferenz, einen neuen Ansatz vor. Der sogenannte Capabilities-Approach nimmt die vielfältigen Verwirklichungschancen in den Blick, die es für ein gelungenes Leben braucht. Aus Mosers Perspektive braucht es dringend Bildungskonzepte und Bildungsprozesse, die den Menschen erlauben, Szenarien für ein gutes Leben zu entwerfen – für sich und für andere. Das schließt Erwerbsarbeit ein, lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Das Lernfeld ist viel weiter, so die Referenz zu Martha Nussbaum: Körperliche Gesundheit, Sicherheit vor Gewalt, Partizipation an gemeinschaftlichen Verhandlungsprozessen über den Umgang mit Unterschieden, volle Nutzung der eigenen Sinne, der Ausdruck von Emotionen, die Erfahrung von Zugehörigkeit – um einige zu nennen. Michaela Moser beschreibt die dafür notwendigen Perspektivenwechsel: vom Mythos der Autonomie zur Freiheit in Bezogenheit („We all live subsidized lives"), von der Inklusion zur Dissidenz, vom Mangel zur Fülle. Dissidenz spricht den Mut zum Eigensinn an, das eigene Leben zu leben. Lebensqualität ist zentral für Fülle, in der die quantitative Konsumwelt in den Hintergrund tritt. Was man für ein gelingendes Leben vor allem braucht? Eine dicke Haut, so Moser mit den Worten Rutger Bregmans aus „Utopien für Realisten".

 

Die Arbeit der Zukunft – die Zukunft der Arbeit?

Wolfgang Bliem, der sich der Erforschung der zukünftigen Arbeitswelten verschrieben hat, skizzierte in seinem Impulsvortrag die seit Jahrzehnten wirkende Digitalisierung und Globalisierung, 2017 Thema diverser Konferenzen. Für Aus- und Weiterbildung, so seine Hypothese, heißt das: Wenn wir die Berufe von morgen noch nicht kennen, gelte es, ein tragfähiges Fundament von Grundkompetenzen zu vermitteln, auf dem die nötigen Spezialisierungen für die Berufe der Zukunft flexibel aufbauen. Für die Bildungsberatung mit ihrem Auftrag, Bildungsbenachteiligte zu erreichen, zeigte er Chancen für „Einfacharbeit" auf: für flexiblen Einsatz, unstrukturierte Tätigkeiten und neue Dienstleistungen bleiben Menschen Maschinen überlegen. Aber: Aus- und Weiterbildung für Geringqualifizierte sei unabdingbar und erfordere neue Lernkonzepte. Der Arbeitsplatz als Lernort (Lernen durch Tun), Weiterentwicklung dualer Bildung, Lernende mit ihren Lebenswelten im Mittelpunkt, „Open Innovation" (inner-, zwischenbetrieblicher Wissenstransfer, Netzwerke).
Sein kurzweiliger Vortrag endete mit dem humorvollen Kabarettisten Hirschhausen: „Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen sieben Jahre Psychotherapie aus dir in diesem Leben keine Giraffe (...) Alles, was von uns gefordert ist, ist uns zu kennen und zu gucken, ob ich dafür in einer guten Umgebung bin. Wenn ich Pinguin bin (...), muss ich nur kleine Schritte machen zu meinem Wasser, dann muss ich springen, dann weiß ich, wie sich das anfühlt, in meinem Element zu sein."

 

Zweifel und Nicht-Wissen: die reflexive Moderne als überschießende Wissensproduktion, die das Leben der Menschen verunsichert

Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie, Barbara Bräutigam, und Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik, Matthias Müller, beide an der Hochschule Neubrandenburg, beschreiben niederschwellige Beratung im Kontext der reflexiven Moderne als von Unsicherheit über den geeigneten Weg der Veränderung geprägt. Gerade in der familienorientierten Beratung scheint dieser Effekt besonders stark. Vor diesem Hintergrund entwerfen sie ein Reflexionsmodell für BeraterInnen, in dem Reflexion Teil der Beratung ist. Damit kann einigen Merkmalen aufsuchender Beratung wie Vermischung von privat und professionell, Unklarheit über die passenden Themen, Alltagsnähe, Nähe- und Distanzthemen besser begegnet werden. Reflection-on-action (nach einer Beratung) und reflection-in-action (während einer Sitzung) sind zentral für die BeraterInnen, die sich auf Basis des Wissensbestandes der Moderne selbstkritisch befragen, eine konstruktive Fehlerkultur und professionellen Selbstzweifel entwickeln sollen. Wesentlich dabei sei, dass die Beratenden die Prozesse während einer Beratung reflektieren, sich dieses Nachdenken auf ihr Handeln in der laufenden Beratung auswirkt und dieses neue Handeln wieder reflektiert wird.

 

Effectuation: die Zukunft handelnd entwickeln

Mit dem provokanten Titel „Ziele stören" stellte der Trainer und Coach Helfried Faschingbauer Effectuation vor, das linear-kausales Denken – Analysieren, Ziele setzen, Planen und Umsetzen – als brauchbares Instrument in Situationen der Ungewissheit und Komplexität in Frage stellt. Ursprünglich aus erfolgreichen Unternehmen entwickelt, lässt sich Effectuation von allen anwenden, die Neues weiterbringen möchten. Vier klar formulierte Prinzipien sind die Denkbausteine: Erstens: am Anfang ist nicht die brillante Idee, sondern das, was ich zur Verfügung habe. Zweitens: ich entscheide nach dem leistbaren Verlust – wenn es schiefgeht, kostet es nicht Kopf und Kragen. Ich kann Dinge ausprobieren, mir Fehler leisten und daraus lernen. Drittens: ich betrachte Zufälle als Ausgangspunkt für Innovation und gestehe mir überraschende Handlungsmöglichkeiten zu. Und viertens: ich verabrede mich mit PartnerInnen, die mitmachen wollen, statt nach den „perfekten" PartnerInnen zu suchen. Allesamt Prinzipien, die sich gut in Bildungs- und Berufsberatungen übertragen lassen: als Werkzeuge, KundInnen zu ihren Ressourcen und ins Handeln zu bringen.

 

Flexibles Wissen, angeregte Selbstorganisation und Tanzimprovisation

Der Kognitionswissenschaftler Michael Kimmel stellt, zusammen mit den Tänzerinnen Mariella Greil, Sabina Holzer und maRia Probst, seine Komplexitätsforschung vor, die Handlungsressourcen in komplexen, mehrdeutigen und ungewissen Situationen untersucht, in denen sich mehrere Menschen koordinieren. Anschauungsmaterial dafür bieten die Tanzimprovisationen, anhand dessen einige der Kernthesen im gemeinsamen Austausch auf ihre Übertragbarkeit in die Beratungssituation befragt werden. Unter anderem geht es um: Lösungen, die nicht perfekt, sondern „gut genug" sind; Resonanzschleifen, die partizipatorisch Bedeutung herstellen; Regulation in Echtzeitwahrnehmung und das Erkennen und Herstellen temporärer sozialer Synergien. Intelligente Einschränkungen der Freiheitsgrade (was muss geregelt sein, was darf frei sein?), das flexible Rekombinieren von Mikroelementen statt fixer Pakete sind weitere benannte kognitive Kompetenzen. Mit „intelligentem Rumfummeln" beschreibt Kimmel eine kognitive Strategie, die die Wahrnehmungsfähigkeit schult, Mehrdeutigkeiten länger zulässt, die Außenwelt anregt statt abstraktes Vorweglösen und spontane Möglichkeiten opportunistisch aufgreift.

 

Mode und Methode: Achtsamkeit in der Beratung

Sibylle Obersteiner, langjährige Beraterin im abz*austria, legt in ihrem Workshop den Schwerpunkt darauf, wie Achtsamkeit in der Beratung eingesetzt werden kann. Mit der zweifachen Anwendung: für die Beraterin und die Beratungskundin. Die Aufmerksamkeit auf die Erfahrung des Augenblicks zu richten, innere und äußere Ereignisse bewusster wahrzunehmen und eine akzeptierende, nicht-urteilende Haltung zu kultivieren sind Grundpfeiler der Achtsamkeitspraxis. Das „Ich" von den eigenen Gedanken und Gefühlen zu unterscheiden, erlaubt, gegenüber negativen und schwierigen Gedanken und Gefühlen Handlungsspielraum zu gewinnen. In der Beratungssituation kann das für Beraterin und Beratene ihre Präsenz erhöhen, ihre Beziehung verbessern und durch die wohlwollende, nicht wertende Haltung neue Perspektiven ans Licht bringen. Eingebettet in die Theorie werden ausgewählte Miniübungen mit der Ziel, sie KundInnen in der Beratung anzubieten.

 

WegweiserInnen zur Verwertbarkeit? Oder: Wie wir PädagogInnen dazu beitragen, Mensch für die kapitalistischen Anforderungen zurechtzubiegen

Der Workshop von Daniela Holzer, Professorin der Erwachsenen- und Weiterbildung an der Universität Graz, musste wegen akuter Erkrankung abgesagt werden. Frau Holzer wird zu unserer Dokumentation der Fachkonferenz 2017 einen Artikel beisteuern. Die Dokumentation wird bis spätestens Ende April 2018 auf www.bildungsberatung-wien.at online sein.

 

Die Bildungsberatung in Wien wird aus Mitteln aus Europäischen Sozialfonds und aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung gefördert.

 

Kontakt:

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Tel.: 0800 20 79 59
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