Und plötzlich waren die Flüchtlinge da

12.11.2015, Text: Michaela Habetseder, Salzburger Bildungswerk/Ring ÖBW
Der Leiter einer Erwachsenenschule erzählt von Herausforderungen und Erfolgen der Integrationsarbeit mit MigrantInnen, die vor einem Jahr in einer kleinen Tiroler Gemeinde angekommen sind.
Kinder am Tisch
Ob erwachsen oder nicht: in der Erwachsenenschule ist Platz für alle
Foto: Erwachsenenschule Thiersee
Die Situation ist in Österreich mittlerweile bekannt: Flüchtlinge werden in Gemeinden einquartiert, und dann beginnt der (lange) Prozess der Integration. Ob diese glückt, hängt von vielen Faktoren ab. In der Erwachsenenschule Thiersee in Tirol können Flüchtlinge seit dem Vorjahr Deutsch lernen. Günter Egerbacher, der Leiter der Erwachsenenschule, berichtet über seine Erfahrungen seitdem.

 

"Als Ende August 2014 in der Gemeinde Thiersee 45 Flüchtlinge einquartiert wurden, waren diese in der Bevölkerung teilweise alles andere als willkommen", erinnert sich Günter Egerbacher, der Leiter der Erwachsenenschule Thiersee. "Schon aus diesem Grund beschloss ich, mir von der Situation selbst ein Bild zu machen und bei Bedarf im Rahmen des Erwachsenenschulprogramms einen Deutschkurs anzubieten." 

 

Deutschunterricht an 5 Tagen pro Woche

 

Der Bedarf war offensichtlich gegeben, das Interesse seitens der Flüchtlingsbetreuung dagegen gering. Günter Egerbacher startete nach längerem Überlegen trotzdem Anfang September 2014 mit einem Nachmittag zum Kennenlernen: "Drei Afghanen, die ein bisschen Englisch sprachen und den anderen dadurch in der Landessprache Dari mitteilen konnten, was ich ihnen zu vermitteln versuchte, erleichterten mir den Einstieg".

 

Aus den geplanten zwei Nachmittagen pro Woche wurden notgedrungen sofort fünf, wodurch das Leben der Flüchtlinge doch etwas Struktur bekam. Am meisten Arbeit verursachte die Kursvorbereitung, weil gängige Sprachkurse in keiner Weise den Lebensumständen von Flüchtlingen entsprechen. Im Schnitt nahmen ca. 20 Kinder und Erwachsene im Alter von 5 bis 50 Jahren an den Kursnachmittagen teil. Bald boten sich auch andere Lehrpersonen - ebenso auf ehrenamtlicher Basis an - und es entstand ein regelrechter Wochenplan mit Sprechen, Schreiben, Rechnen, Spielen, Singen, Tanzen, Basteln …

 

Familien werden abgeschoben

 

Kurz vor Weihnachten des Vorjahres dann wurde das Flüchtlingsquartier geschlossen, welches sich, nachdem sich die emotionalen Wogen der Fremdenfeindlichkeit etwas geglättet hatten, durchaus als Vorzeigeprojekt in puncto Flüchtlingsbetreuung hätte präsentieren können.

 

Zwei Familien - insgesamt 13 Personen - blieben in Thiersee und wurden in der Pfarre gehörenden Wohnungen untergebracht. Da beide Familien nur eine "grüne Karte" ausgestellt bekommen hatten, war ihre Abschiebung so gut wie sicher. Günter Egerbacher: "Ich holte die drei Kinder der einen Familie jeweils mit dem Auto ab und gab ihnen gemeinsam mit der anderen Familie - insgesamt also 8 Personen - im Pfarrhof trotzdem weiterhin Deutschunterricht. Dann mussten beide Familien wieder zurück in ihre Heimat."

 

Nachhaltig: Ehrenamtliche unterrichten

 

Im Pfarrhof wurde daraufhin eine Familie mit sechs Kindern ("weiße Karte") einquartiert. Die Familie wurde in den heurigen Sommerferien an fünf Vormittagen pro Woche betreut - Schwerpunkt jeweils Sprechen, Verstehen, Lesen, Rechnen. Günter Egerbacher: "Eine Sprachheillehrerin, ein pensionierter Arzt und ich teilten uns den Unterricht auf, alle zwei Wochen boten wir zudem einen Fahrdienst zum Großeinkauf an. Die Erwachsenenschule Thiersee hat der Familie, sowie auch der neu zugezogenen Familie in Vorderthiersee, einen Computer mit Lernprogrammen für Erwachsene und Kinder zur Verfügung gestellt und diese auch eingeschult."

 

Und wie sieht es derzeit aus? Fünf der sechs Kinder sind schulpflichtig (zwei in der NMS, drei in der VS), und das Jüngste geht in den Kindergarten. Günter Egerbacher fährt weiterhin zwei Mal die Woche nach Landl, der pensionierte Arzt kommt einmal die Woche in die Volksschule und einmal die Woche in die NMS nach Kufstein, ein Lehrer vom Polytechnischen Lehrgang unterstützt beim Sprechenüben. Der Vater der Flüchtlingsfamilie fährt zwei Mal die Woche zum Deutschkurs ins Flüchtlingsheim in Kufstein.

Günter Egerbacher: "Mein Hauptziel ist es, den 14-jährigen Sohn der Familie im nächsten Jahr zum Hauptschulabschluss zu führen".

 

Apropos Erwachsenenschulen

 

Erwachsenenschulen sind Einrichtungen der Erwachsenenbildung auf lokaler Ebene. Es gibt in Tirol derzeit 98 Zweigstellen, die von ehrenamtlichen Leiterinnen und Leitern betreut werden. Die Veranstaltungs- und Kursprogramme, also das Erwachsenenschulprogramm, orientieren sich an den Bedürfnissen vor Ort und umfassen ein breites Spektrum. So sind in Thiersee beispielsweise Kurse in den Bereichen Sprache, Sport und Bewegung, Musik, EDV, Kreatives uvm. zu finden. Besondere Angebote sind Bildungsreisen und Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen oder Theaterbesuche.

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