Ehalt: "Analyse statt Infotainment"

16.12.2013, Text: Roswitha Ranz, Online-Redaktion
Staatspreisträger Hubert Christian Ehalt erklärt im Interview, wie die Wiener Vorlesungen seit 27 Jahren komplexe Welterklärung unters Volk bringen.
v.l.n.r.: Jurorin Heilinger, Preisträger Ehalt, BM Schmied
Foto: (C) Oreste Schaller
"Bei den 'Wiener Vorlesungen' geht es um die gesellschaftliche, politische und geistige Situation der Zeit. Es werden verschiedene Perspektiven aufgegriffen, und insofern haben sie auch kulturgeschichtliche Relevanz", verkündete die Jury-Vorsitzende Lynne Chisholm bei der Verleihung der Staatspreise für Erwachsenenbildung kürzlich in Wien. 1987 war das neu: University goes public. Hubert Christian Ehalt - mit Chisholms Worten "Erwachsenenbildner, Wissenschafter und Bildungsmanager" - initierte und koordinierte in jenem Jahr die Veranstaltungsreihe "Wiener Vorlesungen" im Rathaus Wien zum ersten Mal. Namhafte WissenschafterInnen traten als Vortragende vor allen Alters- und Bevölkerungsgruppen auf. Was den WienerInnen heute selbstverständlich geworden ist, war zu jener Zeit eine Innovation.


Das Konzept ist nach wie vor erfolgreich: Woche für Woche ist der Festsaal des Rathauses bei diesen Veranstaltungen gefüllt. Und das seit 26 Jahren. Für die Jury des Staatspreises für Erwachsenenbildung 2013 Grund genug, den Initiator Ehalt zu würdigen. Und für unsere Redaktion ein Grund, den Vielbeschäftigten zum - letztlich schriftlich geführten - Interview zu bitten. Der Geehrte fügte seinen Antworten gleich noch einen kurzen Essay bei, den wir den LeserInnen von erwachsenenbildung.at in den kommenden Wochen ebenfalls zur Kenntnis bringen werden.


Seit 1987 gibt es die Wiener Vorlesungen. Was war damals ideengebend für Sie, Wissenschaftsvermittlung zu betreiben und eine derartige Veranstaltungsreihe zu initiieren?


Es gab zwei Zielsetzungen. Erstens: Das Bewusstsein für die Bedeutung von Wissenschaft, Forschung und deren Anwendung und von durch Wissenschaft fundierter Kritik war noch nicht ausgeprägt. Die Tatsache, dass Wissen und Wissenschaft wirksam werden können, hatte eine größere Öffentlichkeit noch nicht erreicht. Wissenschaft war als Produktivkraft, die als Urbanitäts- und Wirtschaftsfaktor wirksam werden kann, noch nicht erkannt.


Und zweitens: Die Universitäten waren - überspitzt formuliert - exterritoriales Gebiet. Bei der ersten Wiener Vorlesung im April 1987 hat der renommierte Soziologe René König der Stadt Wien den Rat gegeben, sie möge ihre Universitäten einnisten. Die Wiener Vorlesungen haben in ihrer fast 27 Jahre langen Geschichte dazu beigetragen, dieses Postulat in die Tat zu setzen - Wien ist mit den gegenwärtigen 19 Universitäten, Privatuniversitäten und Fachhochschulen Universitätsstadt geworden.


Was treibt Sie persönlich immer wieder auf's Neue an, diese Veranstaltungsreihe wie auch die Publikationen dazu zu programmieren, zu planen und zu realisieren?


Die Öffentlichkeit kennt die MeisterInnen der differenzierten und intellektuellen Erklärung der Welt und ihrer Probleme. Die Thesen der Erklärung sind meistens sehr komplex und manifestieren sich bzw. verlangen eine Kommunizierung in den Öffentlichkeiten (Internet, Printpublikationen etc).


Aber Wissen ist wie alles Menschenwerk stets persönlich-subjektiv grundiert. Hätten Mozart und Da Ponte ihren Don Giovanni nicht geschaffen, dann gäbe es ihn nicht in dieser spezifischen Kunstform von Mozart; hätte Foucault nicht über „Überwachen und Strafen“ und Sennett nicht über „Die Tyrranei der Intimität“ geschrieben, dann gäbe es diese Gesellschaftsinterpretationen in dieser sehr spezifischen Form nicht. Die Wiener Vorlesungen haben daher die Möglichkeit, wichtige und originelle Erklärungen der Welt über die Vorträge von Persönlichkeiten, die diese Erklärungen vermittelt haben, zu entwickeln. Man kann dabei die individuelle intellektuelle Aura einer Persönlichkeit, die für ein geistiges System steht, erleben.

Was sind Ihre Anliegen als Wissenschafter und Wissenschaftsvermittler an die Erwachsenenbildung?


Meine Anliegen habe ich in einer Devise der Wiener Vorlesungen formuliert, die ich hier aufzählen will:

 

  • Aufklärung statt Vernebelung
  • Differenzierung statt Vereinfachung
  • Analyse statt Infotainment
  • Utopien statt Fortschreibung
  • Tiefenschärfe statt Oberflächenpolitur
  • Empathie statt Egomanie
  • Widerspruch statt Anpassung
  • Auseinandersetzung statt Belehrung
  • Werte statt „anything goes“
  • Gestaltungswille statt Fatalismus


Wenn Sie an diese vielen Jahre der "Wiener Vorlesungen" zurückdenken: Sind Sie mit der Veranstaltungsreihe stets auf offene Ohren gestoßen oder gab es auch Widerstand?


Wenn man sich mit Überzeugung für eine gute und „richtige“ Sache einsetzt und die VerhandlungspartnerInnen und die Öffentlichkeit merken, dass einem die Sache sehr ernst und sehr wichtig ist, dann gibt es - so meine Lebenserfahrung - keinen Widerstand. Und das habe ich auch erlebt. Ich bin in der fast drei Jahrzehnte dauernden Geschichte der Wiener Vorlesungen auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen.


Sie wurden ja bereits mehrfach für Ihre Arbeit ausgezeichnet. Was bedeutet der Österreichische Staatspreis für Erwachsenenbildung für Sie?


Ich mache meine Arbeit ja in einem öffentlichen Auftrag - für die Stadt Wien und für Österreich. Ich verstehe meine Arbeit als Beitrag zur Fundierung und Erklärung, Kritik und Gestaltung eines demokratischen und solidarischen Gemeinwesens und zur Stärkung der sozialen Kohärenz im Sinne dieser Werte. Die Entwicklung von Zielen und deren Durchsetzung geschieht in ständiger Auseinandersetzung mit den Institutionen der Stadt, des Staates, auch auf europäischer und globaler Ebene. Eine staatliche Auszeichnung durch einen „Staatspreis“ ist eine Bestätigung, dass der angestrebte Vermittlungsprozess von Kritik und Werten die institutionellen Verantwortungsträger erreicht hat.


Worin sehen Sie die Herausforderungen der Zukunft für diesen Bildungsbereich?

 

Bildung soll ein Öffnungsfaktor sein, Potentiale aktivieren. Bildung steht nicht im Dienst von Kontrolle und Disziplinierung, sondern der Entwicklung der Möglichkeiten einer humanistischen und lebenswerten Welt.


Viele unserer LeserInnen sind Studierende oder in Ausbildung. Was geben Sie diesen Menschen, die sich für eine Tätigkeit in der Erwachsenenbildung interessieren, mit auf den Weg?


Die Erwachsenenbildung hat, wie alle anderen Bildungsvorgänge, die Aufgabe, genau, differenziert und kritisch die Frage zu beantworten, in welcher Welt wir leben.

 



Damals wie heute: Wissenschaftsvermittlung für alle
Der Historiker und Anthropologe Hubert Christian Ehalt veranstaltet die von ihm entwickelten "Wiener Vorlesungen", die für gelungene Wissenschaftsvermittlung stehen, seit fast drei Jahrzehnten erfolgreich und erhielt in der Kategorie "Wissenschaft und Forschung 2013 - Gesamtwerk" den Staatspreis für Erwachsenenbildung 2013. In den "Wiener Vorlesungen" passiert Erwachsenenbildung im besten Sinn, war aus der Jury zu erfahren: Die Vorlesungen sind für alle frei und kostenlos zugänglich, das Niveau der geladenen Gäste und der Vortragenden ist hoch, die immens vielfältigen Themen erreichen alle Alters- und Bevölkerungsgruppen. 


Die Veranstaltung versteht sich als Dialogforum, das Analysen und Befunde zu den großen aktuellen Problemen der Welt vorlegt. Nach den Vorträgen wird meist noch rege diskutiert. Die Vorlesungen erscheinen teilweise auch in Buchform. Sie sind von einem Bemühen um Bildungsarbeit gekennzeichnet, die im Sinne von Konzepten der Aufklärung an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit angesiedelt ist. "Aufklärung verstehe ich nicht als Einwegkommunikation ‚top down', sondern als Prozess der Demokratisierung, der Beteiligung, der Ermächtigung von TeilnehmerInnen, der Befähigung zu selbständigem Handeln als ‚Schneeballsystem'", sagt Ehalt dazu.


Univ.-Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt
ist seit 1969 in der Erwachsenenbildung tätig. Er ist Wissenschaftsreferent der Stadt Wien, Generalsekretär und Vorstandsmitglied von fünf städtischen Wissenschaftsförderungsfonds, Koordinator der Wiener Vorlesungen seit 1987, stellvertretender Abteilungsleiter der Kulturabteilung der Stadt Wien, Professor an der Universität Wien und an der Universität für angewandte Kunst Wien. Zu kulturwissenschaftlichen Themen hat Ehalt zahlreiche Bücher und Aufsätze geschrieben und herausgegeben. Die Liste seiner Auszeichnungen und Preise ist lang. Nun gehört der Staatspreis für Erwachsenenbildung 2013 auch dazu. Aus diesem Anlass hat uns der Preisträger einen kurzen Essay mit dem Titel "Bildungspolitik und Bildungsgestaltung" zukommen lassen, den die Online-Redaktion von erwachsenenbildung.at rund um den Jahreswechsel veröffentlichen wird.

Weitere Informationen: