"Wir sind arm, aber nicht dumm" – Tagung "Armut und Bildung"

28.10.2010, Text: Daniela Savel, Österr. Volkshochschularchiv
Die Tagung, die am 19.10. in Wien stattfand, bot Informationen zu Armut in Österreich und Europa und lieferte Anregungen für zielgruppengerechtere Bildungsangebote.
Prolog: Was ist Armut?
Oftmals wird Armut über die finanzielle Situation definiert. Martin Schenk, Sozialexperte und Mitinitiator der Armutskonferenz, gab einige allgemeine Eckpunkte an. Armut sei:
  • stets relativ und auf den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bezogen
  • etwas Unfreiwilliges
  • ein Mangel an Möglichkeiten, angebotene Güter zu nutzen.


In Zusammenhang mit Armut stehe zumeist chronischer Stress, der sich vom „Manager-Stress“  dadurch unterscheidet, dass es den in Armut Lebenden bzw. Armutsgefährdeten daran mangelt, Stress selbstbestimmt zu unterbrechen. Folgeerscheinungen von Stress sind primär Kreislauf-Erkrankungen bei Männern und Magen-Darm-Erkrankungen bei Frauen.

Bei dem Thema „Armut und Bildung“, so Martin Schenk weiter, sei das Hinterfragen von gängig verwendeten Begriffen, wie „Bildungsferne“ und „Integration“ angebracht. Oft gerät außer Blick, dass Personen mit der Bezeichnung bildungsfern als Menschen ohne Bildung abgestempelt werden und deren lebensweltlicher Wissensschatz unberücksichtigt bleibt. Mit „Integration“ wird vermittelt, dass Personen in eine gegebene Gesellschaft eingebunden werden sollen. Martin Schenk präferiert den demokratischen Begriff „Inklusion“, mit dem auch „das Überwinden exkludierender Faktoren“ mitgedacht wird. Zum weiteren sollte es jedem/jeder offen stehen, sich selbstverantwortlich in bestimmte Teilsysteme (z.B.: Freizeitsystem, Gesundheitssystem) zu begeben oder sich aus diesen aufgrund negativer Bedingungen auszuklinken.

Bausteine eines glücklichen Lebens als Leitlinien für die Bildungsplanung
Michaela Moser vom European Anti Poverty Network legte die zehn Grundbefähigungen für ein glückliches Leben nach der Philosophin Martha Nussbaum dar:

  • Leben: ein Leben in Würde führen
  • Körperliche Integrität: gesundes und sexuell selbstbestimmtes Leben, angemessen wohnen, bekleiden
  • Gefühlserfahrung: freudvolle Erlebnisse, frei von traumatischen Erfahrungen
  • Kognitive Fähigkeiten: sich seiner Sinne bedienen, Vorstellungskraft, Gedanken entfalten und artikulieren, einschließlich des Zugangs zur Bildung
  • Vertrauen: Bindungen zu Dingen und Personen eingehen können
  • Vorstellung des Guten: Vorstellungen von einem guten Leben machen, umsetzen und reflektieren können
  • Sozialität: zu sozialer Interaktion fähig sein
  • Ökologische Verbundenheit: Anteilnahme an anderer Spezies und Natur
  • Freizeitgestaltung: erholsame Tätigkeiten genießen und spielen
  • Vereinzelung: sein Leben autonom führen


Moser dazu: Es sei zu bedenken, dass das Kompensieren eines Bereiches durch einen anderen nicht möglich sei, für ein glückliches Leben müssen alle Befähigungen gleichrangige Bestandteile des Lebens sein.

Bildung ist ein Menschenrecht
Als Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention (Zusatzprotokoll aus 1953, Art. 2) ist „dieses Recht wie auch alle anderen einklagbar.“, so das Anfangsstatement von Barbara Kussbach, Menschenrechtsexpertin. Erst durch Bildung wird das jeweilige Individuum dazu befähigt, andere Rechte wahrnehmen zu können. Wird das Individuum gestärkt, wirkt sich dies auch positiv auf die wirtschaftliche Situation eines Landes aus. Ganz abgesehen davon, dass durch das Verkleinern der Kluft zwischen arm und reich die negativen demokratiepolitischen Konsequenzen reduziert werden.

Bildungsangebote für Arme
Das Bestreben der EB-Institutionen, armutsgefährdete bzw. in Armut Lebende zu einer verstärkten Teilnahme an Bildungsangeboten zu bewegen, setze voraus, zielgruppengerechter vorzugehen, so Martin Schenk. Der Zugang muss gegeben sein, nicht nur in einem formalen Sinn – Julia Bock-Schappelwein, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, verwies darauf, dass Finanzierungsstrukturen nicht nur hinsichtlich der Kurskosten, sondern auch in Bezug auf Mobiliäts- und Kinderbetreuungskosten beleuchtet werden sollten. An Bildungsangeboten, die der Lebenssituation des Betroffenen entsprechen, werde auch eher teilgenommen. Es bedarf der Kooperation mit den Betroffenen.

Beispielhafte Bildungsinitiativen
Abseits der gängigsten Vermittlungsform, des Kurses, ermöglicht z.B. das Forumtheater,  Erfahrungen von Betroffenen an Nicht-Betroffene zu vermitteln, die dadurch eine neue Sicht auf Arme und Armut bekommen. Das Spezielle am Forumtheater ist, dass ZuschauerInnen nach einem wiederholten Spielen des Theaterstückes dazu aufgefordert sind, Handlungsabläufe zu unterbrechen und in eine selbstgewählte Rolle eines Schauspielers zu schlüpfen. Eine alternative Handlungsweise könnte somit eine Option sein dem weiteren Handlungsverlauf eine positive Wendung zu geben. Auch auf der Tagung wurde ein Forum-Theaterstück der Theatergruppe InterACT präsentiert: Das Stück „Kein Kies zum Kurven kratzen“ schildert die Situation der Familie Schmölzer, die nach einem Bandscheibenvorfall des Vaters in die Armut rutscht und armutsgeprägte Erfahrungen macht.

Ein weiteres beispielhaftes Projekt ist etwa „ Hands-on experts in poverty“ in Belgien, wo in Armut lebende Personen in Rahmen eines Lehrgangs zu ErfahrungsexpertInnen ausgebildet werden. Nach Lehrgangsende stehen diese für Regierungsinstitutionen und Einzelpersonen als ExpertInnen im Feld Armut zur Verfügung. In Großbritannien wiederum wurde das Projekt „Reaching the policy gap“ durchgeführt, in dem Armutsbetroffenen demokratische Formen der Meinungsäußerung (z.B. das Schreiben von Leserbriefen) vermittelt wurden.

Tagungs-Workshops
Nach einem informationsgesättigten Tagungsvormittag konnten in den drei parallel stattfindenden Workshops „Mit (Form)Theater Armut entgegenwirken“, „Erfahrungen zu Armut und Bildung in Europa“ und „Armut in Österreich und Zugänge zu Erwachsenenbildung“ Themen vertieft und Erfahrungen der TeilnehmerInnen ausgetauscht werden.

Rahmeninformationen zur Tagung
Die Tagung wurde von den zwei größten österreichischen Einrichtungen der allgemeinen Erwachsenenbildung, dem Forum Katholischer Erwachsenenbildung in Österreich und dem Verband Österreichischer Volkshochschulen, veranstaltet.

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer ließ durch den Tagungsmoderator Frank Hoffmann, Botschafter des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung, ausrichten, dass mit dieser Tagung ein brennendes gesellschaftliches Problem aufgegriffen werde. Bildung ermögliche erst die soziale Teilhabe, helfe aus Armut zu befreien und Lebenschancen zu eröffnen. Institutionen der Erwachsenenbildung können einen wichtigen Beitrag leisten, um diese Aspekte zu verwirklichen.

Hubert Petrasch, Vorsitzender des Forums Katholischer Erwachsenenbildung, bezog sich in seinen einleitenden Worten auf das theologische Prinzip des Engagements für die Armen. Die einzelnen Einrichtungen des Forums setzen sich zum Ziel, persönliche, spirituelle, theologische und politische Bildungsangebote in leistbarer Form nahe an die Personen zu bringen.

Wilhelm Filla, Generalsekretär des Verbandes Österreichischer Volkshochschulen, verwies darauf, dass die Begriffe „Integration“ und „bildungsfern“ immer wieder hinterfragt werden sollten. Als wichtige Kooperationspartner für die Einrichtungen der Erwachsenenbildung nannte er die Betriebsräte. Diese sollten noch stärker in die Programmplanung einbezogen werden, da diese die Bildungsinteressen der ArbeitnehmerInnen am Besten kennen.

Hintergrundinformationen zu Armut und Bildung
Christine Stelzer-Orthofer, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes Kepler-Universität Linz, lieferte einige grundlegende Informationen zum Thema Armut und Bildung. In Österreich leben ca. 1 Million Personen mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. In der Sozialpolitik gilt die Erstausbildung als armutspräventiver Bereich. Versäumnisse in der primären Ausbildung sind durch die institutionelle Erwachsenenbildung mit Bildungsangeboten auszugleichen. Österreich liegt bei der Teilnahme an Weiterbildung laut Lifelong-Learning-Indikator der EU, verglichen mit anderen Ländern, im Mittelfeld (2007: 13%). Weit voraus liegen Dänemark und Schweden mit ca. 30%. Mittlerweile ist die Reduzierung von Armut eine EU-Agenda. Bis 2020 sollen 20 Millionen Personen weniger als heute, von Armut betroffen sein. Mit der, von der EU-Kommission ausgearbeiteten Strategie „Europa 2020“ werden die Ziele – Bildungsteilhabe, Arbeitsbeschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen – verfolgt.

Weiterführende Informationen:


Zum Nachlesen: