Grundbildung in der Schweiz neu interpretiert

29.12.2015, Text: Birgit Aschemann, Redaktion/CONEDU
Schweizer Publikation gibt einen umfassenden, praxisnahen Einblick in die Förderung von Grundkompetenzen im Nachbarland.
Foto: (C) Birgit Aschemann Foto: (C) Birgit Aschemann
Basisbildungsbedarf steigt mit Digitalisierung
Geringe Grundkompetenzen sind ein relatives Problem: sie bestehen in Abhängigkeit von den Anforderungen der Umwelt. Diese ist einem ständigen Wandel unterworfen - die Digitalisierung schreitet laufend voran.  Internetanwendungen, Smartphones, alle Dienste des E-Government und Netbanking sowie die zahlreichen Automaten im öffentlichen Raum: sie alle verlangen die Fähigkeit, mit Technik und Text und oft auch Zahlen simultan umzugehen. Es geht also darum, wichtige Basiskompetenzen zu beherrschen und sie auch kombiniert einzusetzen. Wer das nicht kann, ist nicht nur im Alltag zunehmend beeinträchtig, sondern auch in der Arbeit und in der Weiterbildung. Das Problem wird nicht kleiner, sondern nimmt mit der fortschreitenden Digitalisierung laufend zu.


Umfassender Projektüberblick zur Förderung der Grundkompetenzen
In einer neuen Publikation stellte der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) vergangenen Herbst aktuelle nationale Entwicklungen zur Förderung der Grundkompetenzen vor. Herausgegeben von leitenden MitarbeiterInnen des SVEB, stellt die Publikation eigene SVEB-Projekte in den Mittelpunkt. Auf 160 Seiten und in 15 Texten kommen AutorInnen zu Wort, die als ProjektleiterInnen, KursleiterInnen oder ExpertInnen in die Konzeption und Umsetzung dieser Projekte involviert waren.


Basisbildung in Betrieben: warum und wie?
Es sind unter 1% der Personen mit geringen Grundkompetenzen, die an Kursen zu Lesen, Schreiben, Alltagsmathematik oder IKT teilnehmen. Einem Kursbesuch stehen oft finanzielle, berufliche, soziale und zeitliche Barrieren entgegen, und auch der eigene Lernbedarf wird oft nicht gesehen. Bekannt ist aber auch, dass 64% der gering Qualifizierten in der Schweiz berufstätig sind. Erreicht man sie mit Lernangeboten am Arbeitsplatz, entfallen viele dieser Barrieren, und der erste Schritt wird den Lernenden abgenommen. So scheint der Arbeitsplatz ein idealer Lernort zu sein. Das ist aber nicht immer der Fall.


Welche Bedingungen für das Lernen am Arbeitsplatz nötig sind und wie sie hergestellt werden können, wurde im Rahmen des Projekts GO erhoben: der Betrieb braucht einen klaren Nutzen, die Lernenden brauchen stark arbeitsbezogene Inhalte, die Umsetzung des Gelernten braucht einen begleiteten Transfer - so die AutorInnen des entsprechenden Beitrags. Außerdem ist ein unterstützender "Champion" im Betrieb erforderlich, und Beratungen müssen durchgehend angeboten werden.


Aus diesen Erkenntnissen haben die ProjektmitarbeiterInnen ein Toolkit entwickelt, das in kleinen und großen Betrieben zum Einsatz kommt. GO setzt auf detaillierte Arbeitsplatzanalysen und kleine, fokussierte Bildungsangebote. Auf diese Weise begleitet, setzte beispielsweise eine Reinigungsfirma eine Deutsch-Schulung für Migrantinnen um. Rangierarbeiter der Bahn lernten den Umgang mit neuen Kommunikationstools, und ein Postverteilerzentrum schulte seine MitarbeiterInnen zu den Themen IKT, Sicherheit und Kommunikation.

Professionalitätsentwicklung für Kursleitende
Der Aus- und Weiterbildung von KursleiterInnen für Grundkompetenzen sind weitere Projekte gewidmet. In der Publikation werden unter anderem ein Rahmenprofil für DaZ-KursleiterInnen und eine entsprechende modulare Ausbildung vorgestellt. Das entsprechende Kapitel schließt mit Betrachtungen zur unzureichenden Entlohnung von SprachkursleiterInnen, welche den Nutzen einseitiger Bildungsangebote limitieren - die Situation erinnert stark an die Bedingungen in Österreich.


Ein bisher kaum beachtetes Thema ist die KursleiterInnenausbildung für Alltagsmathematik. Im Beitrag von Hansruedi Kaiser wird klar, dass Kursleitende in diesem Bereich erst eigene Vorannahmen aufgeben müssen, bevor sie das Unterrichten neu lernen. Sie tun das am besten im "pädagogischen Doppeldecker", indem sie sich selbst als Lernende erleben und die Wirkungen der vorgeschlagenen Methoden spüren. Wie überall in der Basisbildung gilt auch hier: gelernt wird am besten bei starkem Praxisbezug. Alltagsmathematik ist beim Kuchenbacken und bei Handwerkerarbeiten genauso nötig wie beim Vergleichen von Angeboten oder beim Ausfüllen der Steuerklärung. Lernanlässe und -materialien gibt es viele. Das Projekt zeigt auch auf, dass sich Sprachförderung und Alltagmathematik kaum trennen lassen. Eine integrierte Vermittlung ist nötig.


Die Lernenden neu erreichen lernen
Ein eigener Abschnitt widmet sich der nach wie vor aktuellen Teilnehmenden-Akquise. Aus der Basisbildung ist schon lange bekannt, dass die üblichen Akquisewege bei gering Qualifizierten nicht ausreichen. Die AutorInnen dieses Abschnitts stellen dazu unterschiedliche neue Möglichkeiten vor: Kreative Aktionen können für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Beratungsangebote im Gesundheitswesen oder im kirchlichen Kontext können genutzt werden, um Erwachsene für Bildungsangebote zu gewinnen. Und Fachleute in beratenden Funktionen können sensibilisiert und zu VermittlerInnen ausgebildet werden.


Lese-Empfehlung
Als Praxisbuch für Fachleute ist die Publikation einerseits an Bildungsanbieter adressiert, andererseits auch an Betriebe, die das Potenzial ihrer MitarbeiterInnen besser nutzen möchten. Vielfältigkeit und Praxisnähe machen es zur empfehlenswerten Lektüre für ProgrammplanerInnen und Politikverantwortliche in der Basisbildung. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass auch kritische und unerwartete Projektergebnisse wie das Erkennen von Hindernissen offengelegt werden. Es geht nicht ausschließlich um Erfolgsgeschichten, sondern auch um ein echtes Teilen von nützlichen Erfahrungen - bei Projektdarstellungen keine Selbstverständlichkeit. Mit einzelnen Kapiteln im französischen und italienischen Original ist das Buch vor allem für mehrsprachige LeserInnen voll zu erschließen.

Grämiger, Bernhard / Märki, Cäcilia (Hg.) (2015): Grundkompetenzen von Erwachsenen fördern. Modelle, Perspektiven, Best Practice. Zürich: Schweizerischer Verband für Weiterbildung. 160 Seiten, 43,-- CHF.

Weitere Informationen:

 

Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf der Lektüre eines Rezensionsexemplars, das der Redaktion vom SVEB kostenlos zur Verfügung gestellt wurde.

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