Publikation: Politische Bildung und Migrantinnen

22.08.2011, Text: Julia Goldgruber, Online-Redaktion
Migration und politische Bildung zusammen betrachtet zeigen neue Handlungsoptionen für soziale Gerechtigkeit und engagierte Bildungsarbeit.
Während Migration oft für Probleme in Bildung, Arbeitsmarkt oder Sicherheitsfragen als verantwortlicher Faktor herangezogen wird, bleibt politische Bildung oft im Hintergrund. Wird sie in die Betrachtung integriert, können verschiedene Diskurse, Begrifflichkeiten, kritische Theorien, kollektive (Bildungs-)Praxen sowie die Eröffnung von Zugängen beleuchtet werden. Im Rahmen einer Studie wurden die eigenen Bildungsinhalte der Vereine LEFÖ, Peregrina und OrientExpress untersucht. Zielgruppe der Studie waren Migrantinnen aus allen Ländern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Herkünften und Biographien.

Gesellschaftliches Bewusstsein schaffen
Ziel der Studie war es, ein Konzept politischer Bildung zu erschaffen, welches die Lebensrealitäten von Migrantinnen sowie ihre Verankerung in politische Bildungsarbeit einschließt. Im Zuge der 3-jährigen Arbeit zeigte die Studie jedoch, dass kein besonderes Konzept der politischen Bildung für Migranntinnen benötigt werde, sondern es zuallererst einer Verschiebung der Perspektiven bedürfe: gesellschaftlich-politische Rahmen- und Lebensbedingungen müssen kritisch hinterfragt werden, anstatt "nur" Migrantinnen politisch zu bilden.

Fragestellung und Methodische Vielfalt
Im Rahmen der Studie wurde erhoben, wie politische Bildungsarbeit mit MigrantInnen erfolgt. Migrantinnen wurden befragt, wie sie mit gesellschaftlichen Anforderungen, mit Diskriminierungen und Rassismus sowie zugewiesenen sozialen und politischen Positionen umgehen. Darüber hinaus wurden sie zu Bildungsinhalten und -formaten befragt.

Die Studie umfasst verschiedenste Herangehensweisen und Methoden, die während der Arbeit stets entwickelt, angepasst und weitergeführt wurden. Dazu zählen die kritische Diskursanalyse, Arbeitstreffen der Projektgruppe, die Arbeit mit Teilnehmerinnen durch Workshops, Diskussionsrunden und Rollenspiele, Interviews mit Kursleiterinnen der Bildungsangebote sowie transkriptbasierte Reflexionen.

Kritische Diskursanalyse
Die Analyse thematisiert Unterschiede und Gemeinsamkeiten von diskriminierenden, rassistischen und selbstbefreienden Diskursen. Der Migrantinnendiskurs wird unter anderem eingebettet in Diskurse zu Gesundheit, Kriminalität, Bildungspolitik oder Sexualität. Migration wurde von den Teilnehmerinnen der Studie als "normal" erlebt. In diesen Diskursen gehe es nicht nur um den Kampf um Anerkennung und Partizipation. Es gehe vielmehr um herrschende Machtverhältnisse und das Erkämpfen von Strukturen, welche Selbstempowerment und politische Parizipation ermöglichen, fordern und fördern, so das Ergebnis der Studie.

Arbeitstreffen, Interviews und Fragebögen
Die Arbeitstreffen der Projektgruppe und Interviews mit den Kursleiterinnen waren weitere methodische Ansätze der Studie. In den Arbeitstreffen erfolgte eine Auseinandersetzung mit Inhalten politischer Bildung. Zudem wurden in den von den Vereinen angebotenen Deutschkursen Fragebögen ausgeteilt, die die Vermittlungsquelle für die Angebote der Partnerinnenorganisationen erforschten und wünschenswerte Kursangebote erhoben. Die Interviews wurden transkribiert und flossen teilweise in die Studie ein. Die Fragebögen zeigten die Lernbereitschaft der teilnehmenden Migrantinnen auf, da der am häufigsten geäußerte Wunsch jener war, das Niveau A1 in der deutschen Sprache zu überschreiten. Der Freundes- und Bekanntenkreis bzw. die Familie spielen ebenso eine große Rolle in der Weitervermittlung von Informationen zu Kursen.

Workshops und Diskussionsrunden
In allen drei Partnerinnenorganisationen wurden Workshops und Diskussionsrunden durchgeführt, in denen sich die Teilnehmerinnen aktiv beteiligen konnten. "Das 'Offen-Halten' von Inhalten und Formaten" sei für die Durchführung der Workshops und Diskussionsrunden eine Grundvoraussetzung für eine Forderung und Förderung selbstbestimmter Partizipation an der Gesellschaft, so die Partnerinnenorganisationen. Die Teilnehmerinnen der Workshops und Diskussionsrunden erlebten die Auseinandersetzung mit dem Thema politische Bildung sehr positiv, denn sie ermöglichte eine kritische Auseinandersetzung zur Politik und die eröffnete neue Zugänge zum Thema. Die Teilnehmerinnen identifizieren sich dabei eher mit Handlungen wie "politisch sein, denken und handeln", würden die Politik jedoch gerne aus der Gesellschaft ausschließen, so das Ergebnis der Studie.

Forderung: Perspektivenverschiebung in politischer Bildung nötig
Die Studie verschiebt die Perspektive in politischen Bildungsprozessen von "den" Migrantinnen hin zu gesellschaftlich-politischen Rahmen- und Lebensbedingungen. Ziel von politischer Bildung könne der Studie zufolge nicht eine "Erziehung von Migrantinnen" sein. Politische Bildung müsse sich vielmehr kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Migrantinnen können nicht zu "Aktivbürgerinnen" gebildet werden, wenn die Chancen ungleich verteilt sind und sie daher gar nicht "aktiv" werden können. Die Arbeit im Rahmen der Studie zeigt, dass sich die Teilnehmerinnen an Diskussionen und Workshops beteiligen und sich für die Struktur der Organisationen, das Erlernen der deutschen Sprache und die Inanspruchnahme von Beratungen, interessieren. Das Interesse liegt nicht nur beim Prozess der Migration selbst, sondern bei Möglichkeiten und Grenzen von Migration, Arbeitssuche sowie Abwehrmechanismen gegen Diskriminierung.

Ausblick: Noch viel zu tun
Trotz hoher Bildungsabschlüsse können die Teilnehmerinnen am Arbeitsmarkt schlecht Fuß fassen und sind in Niedriglohnsektoren tätig. Die Erkenntnis, dass verschiedene MigrantInnen zu einheitlichen Gruppen konstituiert werden und somit historische Verfälschung entsteht, müsse laut der Studie thematisiert und aufgelöst werden. Genauso bedeutend sei die Erkämpfung von politischer Partizipation, um Unterdrückungen zu vermeiden.

Zudem müssten der Studie zufolge Vorstellungen hinter Begriffen und Konzepten stärker reflektiert werden, denn Konzepte wie "Integration" oder "interkulturelle Kompetenz" erhielten bis heute keine offizielle Bedeutungszuschreibung. Die Folge seien Unwissenheit und Unsicherheit bei MigrantInnen, sich an einer erfolgreichen Integration zu beteiligen.

Vlatka Frketic (2011):
Politische. Bildung. Migrantinnen
Politische Bildung und Migrantinnen. Eine Studie aus der Praxis
von "Lernzentren für Migrantinnen".
Wien: Verein LEFÖ (Hrsg.)in Zsarb. mit Peregrina; Orient Express, 144 Seiten, gebunden,
Druckerei Fiona, Wien
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