Kompetenzen für eine demokratische Gesellschaft

27.11.2017, Text: Lucia Paar, Redaktion/CONEDU
Welche Kompetenzen brauchen wir für ein demokratisches Miteinander? Oskar Negt und Christine Morgenroth diskutierten an der Uni Graz.
Welche Kompetenzen brauchen wir, um an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben?
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"Ich gehe davon aus, dass Demokratie die einzige staatliche Gesellschaftsordnung ist, die gelernt werden muss."

Mit diesem Statement eröffnete der Sozialphilosoph Oskar Negt den Vortrag zum Thema "Wo denken wir hin?! - Kompetenzen zur Orientierung in einer fragilen Welt" an der Universität Graz. Gemeinsam mit der Psychologin und Psychotherapeutin Christine Morgenroth ging er der Frage nach, welche Kompetenzen Menschen erwerben müssen, damit es ihnen möglich ist, sich als demokratische Lebewesen an den Prozessen gesellschaftlicher Entwicklungen zu beteiligen. Antworten gaben die beiden aus ihrer jeweiligen Disziplin. Damit spannten sie den Bogen von der Diagnose gesellschaftlicher Verhältnisse (Welche Herausforderung gibt es aktuell zu bewältigen?) über die Behandlungsgrundlage (Auf welches Menschenbild stützen wir uns bei der Bewältigung?) bis hin zur Frage nach der Behandlung selbst (Welche Kompetenzen brauchen wir, um diesen Herausforderungen zu begegnen?).

 

Video: Oskar Negt & Christine Morgenroth: "Wo denken wir hin?"

 

Neoliberalismus frisst Demokratie oder die Krise der Erosion

Die Antwort auf die Frage, welche Kompetenzen man braucht, um an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben, sehen die Vortragenden eng mit den gesellschaftlichen Weltverhältnissen und deren aktuellen Herausforderungen verbunden. Oskar Negt sprach in diesem Zusammenhang von einer "Krise der Erosion", die gegenwärtig stattfinde. Sie ist gekennzeichnet durch die allgemeine Infragestellung traditioneller Werte. Morgenroth konstatiert in Anlehnung an Wendy Brown: "Der Neoliberalismus frisst die Demokratie" und merkt an, dass sich neoliberale Prinzipien immer mehr ausweiteten. Privates würde öffentlich und unterliege den Prozessen von Markt und Konkurrenz. Schließlich vereinnahme der Neoliberalismus auch das Individuum und zwinge es zur Selbstoptimierung. "Ein individuelles Selbstoptimierungskonzept tritt nun an die Stelle traditioneller Bindungsformen", so Morgenroth. Thematisiert wurde auch die politische Lage in Europa. Rechtspopulistische Bewegungen gewinnen an Aufwind und das Idealisieren von Vergangenem sei Leitprinzip für die Zukunft. Auf die Komplexität der Welt würde mit Vereinfachungen reagiert. Dies seien große Herausforderungen für eine demokratische Gesellschaft.

 

Die Würde des Menschen als Basis einer demokratischen Gesellschaft

Das zugrundeliegende Menschenbild, auf dem die Frage nach den notwendigen Kompetenzen aufbaut, findet Negt in der Würde des Menschen. "Kant hat davon gesprochen, dass Würde der eigentliche Kern des Menschen ist".

Würde gehöre zu den Eigenschaften und Wissensbeständen, die sich aus der Autonomiefähigkeit der Menschen ergeben, so Negt.

 

Kompetenzen zur Orientierung in einer fragilen Welt: Von der Identitäts- bis zur Gerechtigkeitskompetenz

Mit Hilfe welcher Kompetenzen kann man nun diesen Entwicklungen in der Gesellschaft begegnen? Was ist nötig, damit Menschen das Heil nicht im Vergangenen sehen, sondern mit den Veränderungen umgehen lernen und neue Perspektiven entwickeln? Negt findet die Antworten in verschiedenen Kompetenzen und strich insbesondere drei in seinem Vortrag heraus.

 

Eine wichtige Kompetenz für eine demokratische Gesellschaft sieht Oskar Negt in der Identitätskompetenz. Der Umgang mit Identitätsbrüchen und bedrohter Identität sei eine wesentliche Kompetenz im Zusammenhang mit demokratischen Gesellschaftsformen: "Was brauchen Menschen beispielsweise, wenn sie arbeitslos werden, wenn sie getrennt werden von einem Selbstverständnis, in dem Arbeit dazu dient, so etwas wie ein Selbstwertgefühl zu entwickeln?" Eine Kompetenz, die dieser Frage entgegentreten kann, bilde eine wichtige Grundlage in demokratischen Gesellschaften.

 

Eine weiter wichtige Kompetenz ist laut Negt auch die Ökonomische Kompetenz, die darin besteht, den gesellschaftlichen Zusammenhang von Ökonomie und die Folgen, die sich daraus ergeben, mitzudenken. "Ökonomische Kompetenz bedeutet, die Folgen der Digitalisierung und Ökonomisierung mitzudenken." Demnach gehe es nicht darum, ökonomisch zu handeln, sondern auch darum, die Konsequenzen von Ökonomisierung, Digitalisierung und ökonomischem Handeln weiterzudenken.

 

Die Gerechtigkeitskompetenz erachtet Negt als unabdingbar. "Gibt es nicht so etwas wie gesetzliches Unrecht?" leitet Negt mit Verweis auf Gustav Radbruch ein. "Wir wissen, dass die Maßlosigkeit, mit der bestimmte Dinge betrachtet werden, durchaus gesetzlich sein kann", kommentiert Negt und meint damit den aktuellen Steuerfinanzskandal - die Paradise Papers. Die Ebenen, auf denen Recht und Unrecht wahrgenommen werden, würden verschwimmen. Umso wichtiger sei die Gerechtigkeitskompetenz: "Gerechtigkeitskompetenz zu erwerben bedeutet, dass wir unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit das Unrecht aufdecken", so Negt.

 

Das Kohärenzprinzip als Kompetenzgrundlage

Morgenroth sieht insbesondere das Kohärenzprinzip nach Antonovsky als wichtigen Grundstein und notwendige Kompetenz in der Gesellschaft. Vor allem drei Aspekte sind damit gemeint: Die Menschen müssen verstehen, was passiert, sie müssen dem Geschehenen einen Sinn geben können und den Optimismus haben, dass sie selbst eingreifen und etwas verändern können. Hier schlägt sie die Brücke zu Kant und seiner Kritik der reinen Vernunft: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" seien auch leitende Fragen im Zusammenhang mit dem Kohärenzgefühl.

 

Ziel sei es, auf diese Fragen Antworten zu finden, die anders sind, als die Vereinfachungen, wie sie z.B. von rechtsradikaler Seite angeboten werden.
Eine erste Antwort findet die Therapeutin bei Gramsci: "In der Theorie sollte man Pessimist sein, um alle Möglichkeiten mitzudenken, im praktischen Handeln sollte man sich aber an optimistischen Möglichkeiten orientieren." (Übersetztes Originalzitat: " I'm a pessimist because of intelligence, but an optimist because of will.")

 

Auf Kompetenzebene bedeute dies, dass man Mut braucht, die Dinge neu zu denken und dass man lernen muss, Widersprüche auszuhalten. Dies bezeichnet Morgenroth als Ambivalenz- bzw. Ambiguitätstoleranz. Sie beinhaltet, dass man trotz Widersprüche, die man nicht auflösen kann, weiterdenkt und weiterhandelt. Als Beispiel nennt sie die "Zero Waste-Bewegung": "Die Meere werden trotzdem vermüllt, auch wenn ich dafür sorge, selbst keinen Müll zu produzieren." Mit diesem Widerspruch zu leben und die eigenen Handlungsspielräume trotzdem zu nutzen, wäre ein Beispiel für ambivalenztolerantes Handeln.

 

Diese Ambivalenztoleranz, die Offenheit für Erfahrung, das Neugierig-Sein auf das Fremde, das noch nicht Gedachte - das sind nach Morgenroth die Kompetenzen, die unentbehrlich sind.

 

Wo denken wir hin?

In der anschließenden Diskussion fragte ein Zuhörer nach Ideen, wie man diese Kompetenzen und das demokratisches Miteinander fördern könne: "Wo denken wir konkret hin?"

 

Morgenroths Antwort fiel sehr klar aus: "Ich glaube, dass das eine Aufforderung an jede/n Einzelne/n ist, im eigenen Kontext zu schauen". Sie selbst setze sich z.B. für die gruppenanalytische Behandlung ein, die derzeit nicht von den Kassen finanziert wird. Denn in der Gruppe könne man auch soziale und demokratiefördernde Prozesse forcieren. In vielen Bereichen ließen sich so Handlungsspielräume finden.

 

Und? Wo denken Sie hin?

 

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