"Viele MigrantInnen erfahren Stigmatisierung erst in Westeuropa"
CONEDU: Welchen Stigmata und Stereotypen sind Personen, die an Basisbildungsprogrammen teilnehmen, ausgesetzt?
Rubia Salgado: Wir (das kollektiv - kritische bildungs-, beratungs- und kulturarbeit von und für migrant*innen) arbeiten hauptsächlich mit Migrantinnen (erwachsenen oder jungen Frauen) und können daher nur in Hinblick auf diese Gruppe Aussagen treffen. Migrantinnen in Österreich sind im Allgemeinen mit Dequalifizierungserfahrungen konfrontiert.
Eine verbreitete und historisch gewachsene eurozentristische Haltung bedingt oft aberkennende und abwertende Urteile über Personen, die nicht aus Österreich oder aus anderen europäischen (vor allem westeuropäischen) Ländern kommen und zudem über wenig formale Bildung verfügen. In diesem Sinn werden ihr Wissen und ihr Können oft entweder als "anders" exotisiert oder als nicht "richtig", als "nicht up to date", als nicht ausreichend, als minderwertig abgestempelt.
Selbstverständlich spielen hier klassistische und sexistische Vorurteile ebenso eine wichtige Rolle. MigrantInnen (vor allem Frauen), die aus benachteiligten Schichten kommen, sind häufiger mit derartigen Diskriminierungen konfrontiert als andere, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft/Stellung Zugang zu bestimmten Ressourcen wie Bildung hatten.
Welche Auswirkungen haben diese Stigmata und Stereotype auf die Personen?
Vor allem sehen wir hier Armutsgefährdung mit all ihren Konsequenzen auf verschiedene Lebensbereiche (wie Gesundheit, formales Bildungsniveau der Kinder, gesellschaftliche Teilnahme usw.) als eine der zentralen Auswirkungen.
Zudem zeigen unsere Erfahrungen, dass die Teilnehmenden von Basisbildungskursen häufig mit Gewalterfahrung konfrontiert sind, wahrscheinlich sind Hemmschwellen für gewalttätige Handlungen gegenüber sozial schwachen Gruppen niedriger als sonst.
Warum ist eine Enttabuisierung notwendig bzw. wichtig und wie kann sie erreicht werden?
In Bezug auf Migrantinnen mit keiner oder weniger formalen Bildungserfahrung würden wir nicht über die Notwendigkeit einer Enttabuisierung reden, sondern vielmehr über die Notwendigkeit der Thematisierung und Bekämpfung von Rassismus und Eurozentrismus in der österreichischen Gesellschaft.
Warum ist eine Entstigmatisierung notwendig bzw. wichtig und wie kann sie erreicht werden?
Wir beobachten, dass viele Teilnehmende unserer Basisbildungskurse erst hier in Westeuropa Stigmatisierungserfahrungen z.B. aufgrund fehlender oder nicht ausreichender Schriftsprachenkenntnisse machen. Wie oben erwähnt, denken wir, dass diese Stigmatisierungserfahrungen nicht getrennt von anderen gewaltvollen Diskriminierungserfahrungen zu betrachten sind.
Erst durch eine Auseinandersetzung mit Rassismus und anderen Formen von Diskriminierung meinen wir, dass eine Öffentlichkeitsarbeit entworfen werden kann, die in der Lage wäre, Benachteiligungen und Stigmatisierungen in ihren gesellschaftlich wirkvollen Verschränkungen effizient zu bekämpfen.
Wie können Personen mit Basisbildungsbedarf erreicht werden und wie können sie motiviert werden, an entsprechenden Angeboten teilzunehmen?
Unsere Erfahrung zeigt, dass die Informationsweitergabe innerhalb von MigrantInnen-Communities sehr gut funktioniert. Die meisten Teilnehmerinnen unserer Kurse geben an, dass sie über unsere Bildungsarbeit über FreundInnen, Bekannte oder Familienmitglieder erfahren haben.
Aus unserer Perspektive als Selbstorganisation von Migrantinnen mit einer sehr langen Warteliste für die Basisbildungsangebote erkennen wir keine Notwendigkeit, Motivationsarbeit zu leisten, zudem haben wir kaum Fälle von Kursausstieg.
Über die Interviewpartnerin
Rubia Salgado ist als Erwachsenenbildnerin und Autorin in selbstorganisierten Kontexten tätig. Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Feld der kritischen Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Sie absolvierte ein Lehramtstudium (Portugiesisch und Literaturwissenschaft) in Brasilien und ist Mitbegründerin der Selbstorganisation maiz. Seit 2015 arbeitet sie im neuen Verein das kollektiv. kritische bildungs-, beratungs- und kulturarbeit von und für migrant*innen in Linz, der seit November 2015 die Bildungsaktivitäten des Vereins maiz - Autonomes Zentrum von & für Migrantinnen weiterführt.
das kollektiv ist ein Ort der kritischen Bildungsarbeit. Geleitet von rassismuskritischen und queer-feministischen Perspektiven und Zielen konzipiert und realisiert das Team Basisbildungskurse und Lehrgänge zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses für erwachsene Migrant*innen und Refugees. das kollektiv bildet Basisbildungslehrende aus und führt Entwicklungs- und Forschungsprojekte durch. In diesem Verein arbeiten Menschen, die Veränderungen ungleicher Verhältnisse in der Gesellschaft anstreben sowie Menschen aus unterschiedlichen geografischen und sozialen Orten.
Serie: Basisbildung und Öffentlichkeit
Am Rande der Gesellschaft stehend: so werden Menschen dargestellt von denen wir meinen, dass sie Basisbildung brauchen. Wenn wir über Basisbildungsbedarf diskutieren, stehen uns diese Stigmatisierung und die damit einhergehenden negativen Zuschreibungen oft im Weg. Mit dem Themenschwerpunkt „Basisbildung und Öffentlichkeit" auf erwachsenenbildung.at will die Abteilung Erwachsenenbildung im Bundesministerium für Bildung im Herbst 2017 den Anstoß zur Auseinandersetzung mit diesem Thema geben. In einer Serie von Beiträgen kommen ExpertInnen in Interviews, wEBtalks und Artikeln zu Wort. Alle bisher zur Serie #baböff erschienenen Beiträge sowie Ressourcen zum Thema finden Sie hier.
Die Serie ist Teil eines Projekts des BMB mit Förderung aus Mitteln der Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA).
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