Wie offene Bildungsressourcen Teilhabe fördern

02.08.2017, Text: Karin Kulmer (seit 05/2023: Karin Lamprecht), Redaktion/CONEDU
Offene Bildungsressourcen können Gleichberechtigung in der Erwachsenenbildung fördern. OER-Expertin Sandra Schön im Interview. (Serie: Solidarität, Teilhabe, Ermächtigung)
OER erlauben vieles, was mit herkömmlich geschützten Materialien nicht möglich ist. In der Erwachsenenbildung kann so Teilhabe gefördert werden.
Bild: CC0 Public Domain stevepb/pixabay.com, “konferenz-vortrag-klassenzimmer”
Offene Bildungsressourcen (OER) folgen der Idee der freien Verfügbarkeit und Verteilung von Materialien. Die Verwendung von OER soll Chancengleichheit in der Bildung fördern und die Vision „Zugang zu Wissen für alle" ermöglichen. Wie offene Bildungsressourcen zu mehr Gleichberechtigung in der Erwachsenenbildung beitragen können, erläutert die OER-Expertin Sandra Schön im Interview mit der Online-Redaktion.

 

Karin Kulmer: Der Grundsatz der OER-Bewegung lautet: „Wissen für alle zugänglich machen". Warum ist das für ErwachsenenbildnerInnen wichtig?

Sandra Schön: Das weltweite Netz, wie wir es heute kennen, verbirgt viel Unsinn – aber auch einen Schatz an Wissen und wertvollen Ressourcen. Das Urheberrecht erlaubt uns aber nur sehr eingeschränkt, solche Web-Funde oder auch Bücher oder Magazine in der Erwachsenenbildung einzusetzen, wie z.B. die spannendsten Sachen herauszupicken und das eigene Material im Internet zu veröffentlichen. Wer möchte, dass andere die selbst erstellten Materialien nutzen können, muss auf sogenannte „offene Lizenzen" zurückgreifen. Das heißt, man markiert sein Material im Netz mit Hinweisen auf Lizenzen, also juristischen Fachtexten, die genau das Gewünschte erlauben. Wenn man zum Beispiel zulassen möchte, dass das eigene Arbeitsblatt von allen kostenfrei genutzt, verändert und wiederveröffentlicht werden darf, solange der eigene Name darauf steht und Änderungen kenntlich gemacht werden, kann die Lizenz „Creative Commons BY 4.0 International" nutzen. Dann wissen andere ganz genau, was sie machen dürfen. Auf den ersten Blick klingt das kompliziert – und leider muss man sich wirklich ein wenig damit beschäftigen, wie es genau klappt. Aber es gibt z.B. mit dem Online-Kurs zu OER auf der Plattform iMooX.at auch gute Hilfestellungen für die ersten Schritte mit OER.

 

Ist die Verwendung von OER denn immer kompliziert?

Nein, und ich denke, dass es zukünftig immer leichter wird OER zu finden und korrekt zu nutzen. Immer mehr Angebote, also u.a. auch Software, bauen auf den offen lizenzierten Materialien auf und sorgen automatisch für die korrekte Zitation und Attribution, ohne dass ich mir darum große Gedanken machen muss. So kann ich z.B. bei der Gestaltung von Arbeitsblättern auf der Webplattform bei Tutory.de gezielt nach passenden Bildern (aus FlickR) oder Texten (aus der Wikipedia) suchen, die ich nur einfügen muss. Die korrekte Attribution übernimmt die Plattform selbst. Wenn Sie einen Youtube-Account haben, können Sie mit dem integrierten Videoeditor aus der Fülle der offen lizenzierten Youtube-Videos schöpfen, diese beliebig zusammenschneiden – die korrekte Attribution erledigt Youtube von alleine. Solche Werkzeuge werden es uns zukünftig beim Re-Mix von OER leichter machen.

 

Und erlauben Sie mir noch einen Kommentar: Unser Problem ist das Urheberrecht. Viele beschäftigen sich aus Neugier mit OER und merken dann erst, wie häufig sie bislang gegen das Urheberrecht verstoßen haben. Klar, dass sie OER mit den unterschiedlichen Lizenzierungsmöglichkeiten als kompliziert wahrnehmen – obwohl sie derzeit die einzige Möglichkeit darstellen, mit den Einschränkungen des Urheberrechts zu arbeiten. Die Regeln des Urheberrechts korrekt zu verfolgen, ist aber die eigentliche Herausforderung. Im Zeitalter der Digitalisierung kommen Lehrende nicht mehr um Urheberrechtsfragen herum, selbst wenn sie kaum digital arbeiten. Wer hat nicht ein Cartoon oder Foto in seinen Unterlagen, das eigentlich nicht genutzt werden darf oder adaptiert einen urheberrechtlich geschützten Text? Eine exakte Zitation ist im Alltag oft zweitrangig. Da man umgekehrt Seminarunterlagen häufig digital zur Verfügung stellt, z.B. per E-Mail verschickt, werden Urheberrechtsverstöße leichter publik bzw. potenzieren sich noch, z.B. wenn Folien online gestellt werden. Daher ist es nur die konsequente Folgerung, dass man OER statt urheberrechtlich geschützter Materialien nutzt.

 

Zum Thema digitale Verbreitung von Unterlagen: Können durch die Digitalisierung mehr Menschen an Bildung teilnehmen oder werden sie dadurch eher ausgeschlossen?

Klar, heute werden umfangreiche Bildungsressourcen und -möglichkeiten im Web zur Verfügung gestellt. Allerdings gibt es trotzdem drei große Hürden, die zu bewältigen sind.

 

Zunächst ist das die Infrastruktur: Nicht jede/r hat Zugang zum Internet bzw. entsprechende Infrastrukturen. Freifunk ist aus dieser Sicht eine wesentliche Initiative um Zugang zu täglicher Information, Kommunikation und Lernmöglichkeiten zu schaffen.

 

Dann fehlt vielen die Vorstellung davon, was sich da alles für Schätze online verstecken und wie sie sich finden lassen und dass sie das eigene Lernen unterstützen können. Gartentipps, Tipps zur Reparatur der Waschmaschine, Sprachlernangebote – das Spektrum erstaunt dann doch viele.

 

Schließlich, als Drittes, ist das selbstorganisierte Lernen für viele unbekannt bzw. passt für sie nur zu bestimmten Situationen und Lernbereichen. Wir wissen, dass AkademikerInnen auch an Online-Kursen, die sich an eine breite Bevölkerung richten, einen viel höheren Anteil haben als geringer Qualifizierte. Ein Beispiel dafür ist der Kurs „Gratis Online Lernen", bei dem es um das kostenlose Lernen mit dem Internet geht. Dass Lerninteressen auch situationsabhängig sind, kennen Sie sicher auch: Nach manchen Dingen suche ich interessiert im Netz, schaue Lernvideos und stöbere in Plattformen. Bei anderen Themen hält sich meine Begeisterung für die eigene Recherche und Lernplanung in Grenzen. Da würde ich mich dann lieber in ein Seminar setzen und etwas vorgekaut bekommen.

 

Fasst man diese drei Probleme zusammen, bedeutet das also nicht, dass man auf die Möglichkeiten des Internets nicht setzen sollte – aber dass sie auch nicht ohne flankierende Maßnahmen, z.B. Ausbau der Infrastruktur, Begleitangebote, herkömmliche Bildungsmaßnahmen gedacht werden sollen, wenn man damit mehr Menschen erreichen möchte. Und dabei möchte ich betonen: Wer nachhaltig denkt, sollte dabei immer auch auf OER setzen.

 

Können OER zu einer gleichberechtigteren Erwachsenenbildung beitragen – und wenn ja, wie?

OER erlauben vieles, was mit herkömmlich geschützten Materialien nicht möglich ist. Damit ist auch die Grundlage für eine gleichberechtigtere Erwachsenenbildung geschaffen. Man darf OER verändern und wiederveröffentlichen. Das bedeutet auch, dass man es vergleichsweise einfach aktualisieren oder an bestimmte Bedürfnisse anpassen kann. OER liegen auch häufig in Formaten vor, die eine einfache Bearbeitung erlauben. So kann man Materialien z.B. auch sehbehinderten Menschen zugänglich machen, indem man eine Vorlese-Funktion hinzufügt oder den Text vergrößert. OER sorgen also auch für mehr Barrierefreiheit und ermöglicht inklusives Lernen. Natürlich mag das nicht in jedem Fall zutreffen, aber sicherlich häufiger und leichter als bei Materialien, die aufwändig verschlüsselt und kopiergeschützt sind.

 

OER sorgen auch dafür, dass der Unterschied zwischen den ExpertInnen und den Lernenden verschwinden kann – sorgt also auch für spannende Bildungsinnovationen: Auch Lernende können OER für sich nutzen, neu arrangieren und mit anderen teilen, z.B. in öffentlichen Lerntagebüchern oder über gemeinsame Wiki-Plattformen. Neben der technischen Struktur, z.B. der Wiki-Technologie, ist da eben auch die rechtliche Grundlage entscheidend, ob so etwas möglich ist.

 

Zusammengefasst heißt das: Ja, OER sorgen für eine gleichberechtigtere Erwachsenenbildung. Damit solche Effekte auch zum Tragen kommen, sollten öffentliche Gelder immer an die Schaffung von OER gebunden werden – das gleiche empfehle ich z.B. auch Stiftungen.

 

Fördergeber verlangen zunehmend OER als Projektergebnisse, gleichzeitig ist die Unsicherheit noch hoch. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Wir befinden uns gerade in einer Phase, in der OER eine relativ hohe Aufmerksamkeit bekommen, ohne dass es bereits in gleichem Maße professionelle Beratungsangebote bzw. Erfahrungen bei den Weiterbildungsanbietern zu OER gibt. Zwar haben schon tausende Personen an den deutschsprachigen Online-Kursen zu OER (angefangen mit COER13.de) mitgemacht – aber OER zu suchen und zu produzieren ist etwas anderes als OER in einer Erwachsenenbildungseinrichtung einzuführen und breit umzusetzen. Wer OER entwickeln möchte, muss derzeit i.d.R. alle Materialien selbst neu produzieren und ggf. auch entsprechende neue Verträge mit IllustratorInnen vereinbaren. OER bedeuten in der Regel erhöhte Umstiegskosten. Mittelfristig überwiegen die Vorteile jedoch: Veröffentlicht man die eigenen Materialien als OER, ist es auch für Anbieter selbst einfacher, das eigene Material anzupassen oder später neu aufzulegen. Zusätzlich kann man eine Lizenz wählen, bei der man bei Wiederverwendung die „Attribution", also z.B. die UrheberInnen angeben muss. Das bedeutet, dass die UrheberInnen oder der Name der Einrichtung ersichtlich bleibt. Das Argument „dann macht irgendwer irgendwas mit meinen OER" zählt nicht – Änderungen und Herkunft müssen ebenso genannt werden, wenn man nicht auf alle Rechte verzichtet (wie bei der Lizenz CC 0). OER sind für Weiterbildungseinrichtungen ganz plump auch eine Möglichkeit für PR und Aufbau von Reputation durch Verbreitung der eigenen Materialien als OER.

 

Setzen auch Unternehmen auf OER?

Ja, Unternehmen und Lobbyisten versuchen mit kostenlosen Angeboten im Bildungsbereich KundInnen zu erreichen und Einfluss zu nehmen. Es gibt mehrere Agenturen im deutschsprachigen Raum, die Spezialmaßnahmen für Kindergartenkinder anbieten. Für Interessenverbände sind OER eine Möglichkeit, breiter zu wirken. Umgekehrt gilt: OER sind an sich kein Qualitätsmerkmal. Die Verwendung von OER sollte nicht dazu führen, dass man den kritischen Blick auf die Qualität verliert.

 

Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass öffentlich geförderte Projekte immer OER produzieren, um den eventuell problematischen kostenlosen Angeboten ein qualitativ hochwertiges OER-Angebot gegenüberzustellen. OER sollten und können hier ganz gezielt bildungspolitisch genutzt werden – und dazu bedarf es nicht unbedingt Mehrausgaben, sondern einfach einer OER-Klausel bei öffentlichen Fördermitteln.

 

Dr. Sandra Schön forscht bei der Salzburg Research Forschungsgesellschaft im InnovationLab und ist für zahlreiche OER-Projekte und -Initiativen mitverantwortlich. Zu nennen ist z.B. der Online-Kurs „Gratis Online Lernen" auf der Plattform iMooX.at, der mit dem Österreichischen Staatspreis für Erwachsenenbildung ausgezeichnet wurde oder das offen lizenzierte Lehrbuch „Lernen und Lehren mit Technologien" (Hrsg. Martin Ebner und Sandra Schön). Dieses erhielt als Auszeichnung den Neuen Deutschen Buchpreis.

 

Ankündigung:

Als Moderatorin unseres wEBtalks zu „OER für eine gleichberechtigte Erwachsenenbildung" am 8. November 2017 wird Dr. Sandra Schön mit zwei Experten Möglichkeiten und Chancen von OER für die Erwachsenenbildung erörtern. Der wEBtalk wird aus Mitteln der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB) und des Bundesministeriums für Bildung (BMB) gefördert.

 

Serie: Solidarität, Teilhabe und Ermächtigung in der Erwachsenenbildung

In welcher Gesellschaft wollen wir miteinander leben? In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und demokratischer Erosion ist diese Frage für Erwachsenenbildung von steigender Bedeutung. Mit freiem Auge erkennen wir die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen, die von einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft zeugen. Wie wir leben wollen ist eine Frage, die beim Umgang mit uns selbst und unseren Nächsten anfängt, aber bei weitem nicht dort endet. In postdemokratischen Zeiten stehen die Verhältnisse, Strukturen und Exklusionsmechanismen mindestens ebenso sehr zur Verhandlung, wie humanistische Wertvorstellungen und Aufklärungsideale. Ein Blick, den uns das "Bildungsevangelium" als Erzählung vom persönlichen Erfolg durch Bildung immer wieder verstellt. Alle bisher zur Serie #ebsoli erschienen Beiträge finden Sie hier.

Weitere Informationen:
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