Wie Zweitschriftlernende gefördert werden können
Anerkennung der Erstschrift - Un/Sichtbarkeit Zweitschriftlernen
Bis vor nicht allzu langer Zeit war im bundesdeutschen Alphabetisierungsdiskurs noch von „Umalphabetisierung“ die Rede, wenn Zweitschriftlernende gemeint waren. Dies suggerierte, dass es beim Erwerb des lateinischen Alphabets im Wesentlichen um Alphabetisierung gehen würde und offenbart zudem eine geringschätzende Haltung gegenüber nicht-lateinischen Erstschriften.
Zweitschriftlernen bedeutet, dass es schon einen (Erst)Schrifterwerb gab. Mit dem Erstschrifterwerb im Zusammenhang stehende Fertigkeiten und Kompetenzen können auf den Zweitschrifterwerb übertragen und sowohl Erst- als auch Zweitschrift produktiv genutzt werden.
Erstschriftverwendung in unterschiedlichem Ausmaß
Deshalb ist ein Kurs für Zweitschriftlernende sinnvoll. Aber auch die Heterogenität in dieser Gruppe ist eine Tatsache. Die Heterogenität hängt mit der Routine in der Verwendung der Erstschrift zusammen. Wer zwar grundlegend alphabetisiert ist, in seinem beruflichen und/oder privaten Kontext aber wenig Gelegenheit oder Anlass zu schreiben und lesen hat und sich trotz Schulbesuchs in der Erstschriftverwendung nicht ganz sicher ist, hat eine andere Voraussetzung als Lernende, deren Erstschriftverwendung routiniert und automatisiert ist.
Zweitschriftlernende sind Menschen, die in die Schule gegangen sind, Ausbildungen absolviert, Berufe gelernt und/oder ausgeübt haben. Sie sind beispielsweise Schüler_innen, Lehrer_innen oder Bäcker_innen, Tischler_innen und Schneider_innen.
Diese Menschen, die in ihrer Erstschrift grundlegend alphabetisiert sind und über Schreib- und Lesefertigkeiten verfügen, brauchen keinen Alphabetisierungs-/Basisbildungsunterricht. Vor allem deshalb, weil auf den mit dem Erstschrifterwerb verbundenen Fertigkeiten und Kompetenzen aufgebaut werden kann. Vorhandene Lernstrategien und Wissen über Schriftlichkeit sind Ressourcen, auf die Zweitschriftlernende zurückgreifen.
Kurse für geflüchtete Zweitschriftlerner_innen
Institutionen reagieren entweder gar nicht oder nur zögerlich auf den neuen Bedarf, oft aus organisatorischen Gründen. In der Logik der Administration gedacht, existiert die Gruppe der Zweitschriftlernenden deshalb nicht, weil es Kurse für Zweitschriftlernende nicht mehr oder noch nicht gibt.
Im Rahmen eines innovativen Kleinprojekts der VHS Wien wurden zwei Modellkurse „Zweitschriftlernen“ angeboten. In Kooperation mit einem Wohnheim für geflüchtete Menschen, so wie der evangelischen und katholischen Pfarre (, die Lernräume im Umfeld zur Verfügung stellten) konnten zwei Kurse organisiert werden, die je ca. ein halbes Jahr angeboten wurden.
Die Gruppe der Lernenden waren Geflüchtete. Fluchterfahrungen werden unterschiedlich verarbeitet und haben Einfluss auf das Lernen. In Österreich angekommen, sind Asylwerber_innen mit der Erwartung konfrontiert, so schnell wie möglich Deutsch (das bedeutet auch Deutsch lesen und schreiben) zu lernen. Gleichzeitig haben insbesondere Geflüchtete nur sehr eingeschränkten Zugang zu Kursen. Ein Recht auf Lernen zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt ist Illusion. Sie führen ein Leben, das auf unabsehbare Zeit in unsicheren Verhältnissen stagniert.
Zweitsprache und Zweitschrift
Die Kurse wurden von je einer Daz-Kursleiterin und einer Alphabetisierungs-/Basisbildungskursleiterin im Team begleitet. Wichtig für den Kurs waren der verschränkte Erwerb von Zweitsprache und Zweitschrift, im Unterschied zu einem Modell, das den Erwerb der Schrift als Voraussetzung für den Spracherwerb betrachtet. In Kursen für Zweitschriftlerner_innen wird (wie in Alphabetisierungs-/Basisbildungskursen) von Anfang an Deutsch vermittelt und erworben. Arbeit mit Texten setzt nicht voraus, dass schon alle Buchstaben erarbeitet sind, die Arbeit an mündlichen Fertigkeiten (rezeptiv und produktiv) ist die Basis, um zu den Lauten und ihrer Verbindung zu den Buchstaben zu kommen.
Heterogenität Zweitschriftlernende
Zweitschriftlernende müssen keine grundsätzliche Einsicht in die Funktion der Schrift erlangen, sie sind mit Konzepten wie Wort oder Satz vertraut, phonologische Bewusstheit (die Fähigkeit Sprache in seine lautlichen Bestandteile zu segmentieren und umgekehrt auch zu synthetisieren) ist bereits entwickelt, sie verfügen über (formale) Lernerfahrungen und Lernstrategien und können möglicherweise auf metasprachliche Kategorien zurückgreifen. Das alles unterscheidet sie von Lernenden in Alphabetisierungs-/Basisbildungskursen ohne Schriftkenntnisse.
Dennoch: Solange die Laut-Buchstaben-Korrespondenz in der lateinischen Schrift im Deutschen nicht erarbeitet ist, wird auch der reguläre DaZ-Kurs überfordernd sein. Selbst für Lernende, die Englisch in der Schule gelernt haben, muss trotz vertrauter Schrift die neue Lautzuordnung im Deutschen erarbeitet werden.
Zweitschriftlernende brauchen Beratung und ein eigenes Kursangebot, das ihren Vorkenntnissen gerecht wird
Wer bei der Beratung keine lateinischen Schriftkenntnisse vorweisen kann, wird im schlimmsten Fall dequalifiziert. Ganz im monolingualen Habitus werden dann mangelnde lateinische Schriftkenntnisse mit fehlenden Schriftkenntnissen gleichgesetzt und Zweitschriftlerner_innen landen im Alphabetisierungs-/Basisbildungkurs, weil der Erstschrifterwerb hier nichts wert ist oder weil es kein anders Angebot gibt. Sehr schnell wird sichtbar, dass Zweitschriftlernende aufgrund ihres Vorwissens rasche Lernfortschritte machen, Aufgabenstellungen schnell erfassen, sich selbständig um ergänzende Übungen aus dem Internet bemühen und vielfach sehr bald in den regulären DaZ-Kurs wechseln können.
Um Zweitschriftlerner_innen zu fördern und sie – unter Einbezug ihrer Erfahrungen und Kenntnisse – angemessen zu unterrichten, wäre ein differenziertes Kursangebot wünschenswert. Das Ziel ist, dass die Lernenden adäquate Kurse besuchen können. Flächendeckend. Österreichweit.
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