Medienreflexionskompetenz in der Basisbildung stärken

17.12.2021, Text: Andrea Sedlaczek, COMMIT
Bildungsarbeit soll nicht nur Mediennutzungskompetenz, sondern auch Medienreflexionskompetenz vermitteln – so der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski bei einer Entwicklungswerkstatt im Herbst 2021.
Teilnehmende bei der Entwicklungswerkstatt mit Roberto Simanowski
In der lern:werkstatt im Bildungszentrum Salzkammergut fand im Herbst 2021 eine Entwicklungswerkstatt zu Medienreflexionskompetenz mit Roberto Simanowski statt.
Foto: Alle Rechte vorbehalten, Helmut Peissl, Entwicklungswerkstatt mit Roberto Simanowski, auf erwachsenenbildung.at
In seinem aktuellen Essay "Digitale Revolution und Bildung" ruft der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski zu einer breiten Verankerung von Medienreflexionskompetenz in der Bildungsarbeit auf. Medienbildung könne sich nicht darauf beschränken, digitale Technologien als Unterrichtstools zu nutzen und zu lehren, wie digitale Medien effektiv eingesetzt werden können. Vielmehr müsse sie auch ein Bewusstsein über die individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung schaffen. Ein umfassendes Verständnis von Medienkompetenz umfasst somit sowohl Mediennutzungskompetenz als auch Medienreflexionskompetenz.

 

Doch wie können TrainerInnen in der Erwachsenenbildung und insbesondere in der Basisbildung Medienreflexionskompetenz in ihrem Unterricht vermitteln? Welches Hintergrundwissen brauchen sie selbst? Und wie können sie ihre TeilnehmerInnen zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Medieninhalten anregen? Mit diesen Fragen setzte sich eine Entwicklungswerkstatt im Rahmen des Projekts EXPLORE auseinander. Im Herbst 2021 tauschte sich das Projektteam an zwei Tagen im Bildungszentrum Salzkammergut mit Roberto Simanowski über die Bedeutung von Medienreflexionskompetenz für die Basisbildung aus.

Verkehrspolizeiliche vs. kriminalpolizeiliche Medienbildung

Den Unterschied zwischen Mediennutzungskompetenz und Medienreflexionskompetenz verdeutlicht Roberto Simanowski mit einer Metapher aus dem Bereich der Polizei: Die verkehrspolizeiliche Medienbildung (Mediennutzungskompetenz) schult die Lernenden im smarten Umgang mit digitalen Technologien. Sie fokussiert darauf, die "Verkehrsregeln" im digitalen Raum zu vermitteln, um vor Gefahren zu warnen und "Unfälle", etwa im Bereich des Datenschutzes zu vermeiden. Hinter der verkehrspolizeilichen Medienbildung steht ein Bildungsverständnis, das den ökonomischen Nutzen und die konkrete Verwertbarkeit von Wissen und Fertigkeiten ins Zentrum stellt.

 

Im Gegensatz dazu macht die kriminalpolizeiliche Medienbildung (Medienreflexionskompetenz) digitale Medien selbst zum Unterrichtsgegenstand: Sie will digitale Medien nicht nur unhinterfragt nutzen, sondern zivilgesellschaftlich darüber diskutieren, was die digitale Revolution mit uns als Gesellschaft macht. Die kriminalpolizeiliche Medienbildung baut auf einem ganzheitlichen Bildungsverständnis auf, das die allgemeine Handlungs- und Reflexionsfähigkeit von mündigen BürgerInnen stärken will.

Die kulturstiftende Funktion von Medien

Medienreflexionskompetenz bedeutet für Simanowski, die Funktionsweisen von Medien zu verstehen. Bereits der Medientheoretiker Marshall McLuhan betonte mit seiner berühmten Aussage "Das Medium ist die Botschaft" die kulturstiftende Funktion von Medien. Es sind demnach nicht die Inhalte, sondern die Kommunikationsbedingungen der digitalen Medien, die unsere Gesellschaft prägen. Von der Algorithmisierung über die Clickbait-Logik bis zum persuasiven Design der Social-Media-Plattformen: Erst wenn man diese Aspekte der Digitalisierung versteht, kann man die problematischen Entwicklungen der digitalen Welt, von Filterblasen über Hassrede bis zu Desinformation, reflektiert einordnen.

Didaktisierung der Medienreflexionskompetenz

Doch wie kann Medienreflexionskompetenz zielgruppengerecht für den Unterricht didaktisiert werden? Roberto Simanowski brachte hierfür zwei konkrete Beispiele. Das erste Beispiel baut auf einer Folge der deutschen Serie Tatort auf. Diese Folge des Stuttgarter Tatorts aus dem Jahr 2016 mit dem Titel "HAL" zeigt ein fiktives Szenario, in dem die Künstliche Intelligenz einer Überwachungssoftware außer Kontrolle gerät und sich gegen ihre SchöpferInnen richtet.
Mit diesem Beispiel können Lernende zu einer Reflexion über die gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen und Gefahren von Künstlicher Intelligenz im Speziellen, wie auch digitaler Medien im Allgemeinen angeregt werden. Zur Didaktisierung kann die TV-Folge dafür auch mit anderen populärkulturellen und literarischen Medienprodukten verknüpft werden – von Goethes Zauberlehrling über das Lied Hänschen klein bis zu Homo Faber von Max Frisch. Wie weit TrainerInnen hier im Unterricht gehen wollen und können, hängt jedoch stark von der Zielgruppe ab. In der TrainerInnenbildung wird hier anderes möglich sein als in niederschwelligen Bildungskontexten wie der Basisbildung.

Alltagsphänomene der Digitalisierung

Das zweite Didaktisierungs-Beispiel geht von einem TV-Spot der Polizei Lausanne mit dem Titel "Zaubertrick mit dem Smartphone im Strassenverkehr" aus. Der Spot zeigt auf ironische und zugleich drastische Weise, wie ein junger Mann durch den Blick auf sein Handy in der Hand im öffentlichen Raum so unachtsam ist, dass er von einem Auto überfahren wird. Anhand dieses Beispiels der "Smartphone-Zombies" (die moderne Umkehrung des "Hans guck in die Luft") lassen sich die Auswüchse der heutigen Smartphone-Kultur thematisieren. Ein solches Alltagsphänomen der Digitalisierung eignet sich für den Unterricht besonders gut, da damit an die Lebensrealität der Zielgruppe angeknüpft werden kann. Diese können ihre eigenen Erfahrungen über ihre digitale Mediennutzung in die Diskussion einbringen. Medienreflexionskompetenz wird damit direkt erlebbar.

Meinungsbildung auf Social-Media-Plattformen

Zuletzt richtete Roberto Simanowski seinen Blick auf die in der derzeitigen Pandemie besonders virulent gewordene Problematik der "Infodemie": Fake News, Verschwörungstheorien und andere Radikalisierungstendenzen werden durch die Social-Media-Plattformen befördert und erschweren die Meinungsbildung zu zivilgesellschaftlich wichtigen Themen. Verschwörungstheorien präsentieren sich oft als vermeintlich kritische Reflexion. Im Vergleich zu einer wissenschaftlich fundierten Reflexion beruhen sie aber auf einem Halbwissen und einer ungenügenden Methodik. Laut der narrativen Psychologie verbirgt sich hinter Verschwörungstheorien oft eine Sehnsucht danach, klare Erklärungen und auch Feindbilder für Geschehnisse in der Welt zu finden.

 

Doch wie kann diesen problematischen gesellschaftlichen Trends begegnet werden? Technische Lösungen, wie das Löschen von Inhalten oder das Sperren von radikalen Personen von Plattformen, sind zwar wichtige Maßnahmen, damit sich Falschinformationen nicht weiterverbreiten. Sie sind aber keine nachhaltigen Lösungsansätze. Simanowski plädiert alternativ dafür, den zivilgesellschaftlichen Aktivismus zu stärken, um problematischen Inhalten auf Social-Media-Plattformen etwa mit Solidarisierungs-Initiativen zu begegnen.

Ambiguitätstoleranz mit Literatur und Kunst stärken

Zum anderen ist die Medienbildung gefragt, die Kompetenzen der Lernenden zu stärken. Um mit den problematischen Aspekten der digitalen Medien umgehen zu können, müssen die Lernenden resistenter werden. Neben der Medienreflexionskompetenz braucht es dafür auch Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, Unsicherheiten und Widersprüche im Leben aushalten zu können.

 

Einen Weg, um die Ambiguitätstoleranz zu erhöhen, sieht Roberto Simanowski in der Arbeit mit Kunst und Ästhetik. In der Auseinandersetzung mit fiktionalen Texten, mit Gedichten, aber auch mit Satire und Ironie wird das Bewusstsein für die Uneindeutigkeit von Sprache gestärkt. Dadurch können wir lernen, konstruktivistisch zu denken und unterschiedliche Interpretationen zuzulassen.

 

Um Medienreflexionskompetenz zu vermitteln und damit auch die Ambiguitätstoleranz zu stärken, braucht es den Freiraum einer Bildung, die sich nicht auf ein pragmatisches handlungsorientiertes Nutzungswissen beschränkt, sondern die auf das Ideal von mündigen BürgerInnen abzielt. Die Erwachsenenbildung und auch die Basisbildung kann hierfür einen wichtigen Beitrag leisten.

Über das Projekt EXPLORE

EXPLORE! – Offene Bildungswerkstatt für Lernen, Arbeiten und Medienhandeln im Salzkammergut ist ein Netzwerkprojekt unter der Trägerschaft von BIS – Bildungszentrum Salzkammergut, zusammen mit den Netzwerkpartnern FRS – Freies Radio Salzkammergut und COMMIT – Community Medieninstitut für Weiterbildung, Forschung und Beratung. Es läuft von 2019 bis 2021 und wird gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) und des Europäischen Sozialfonds (ESF).

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