Anerkennung als Thema in der Migrationsgesellschaft

Annette Sprung 2008, aktualisiert 2013

Eine zentrale Analyseperspektive auf das Phänomen Migrationsgesellschaft ist mit dem Begriff der "Anerkennung" verbunden. Anerkennungsfragen stellen sich beispielsweise in politisch-rechtlicher Hinsicht, in Bezug auf die transnationale Verwertbarkeit von Qualifikationen, auf die Ebene der sozialen Wertschätzung sowie auf die Anerkennung unterschiedlicher Lebens- und Identitätsentwürfe. Anerkennung stellt einen wichtigen Einflussfaktor für die Handlungsfähigkeit von AkteurInnen dar.

 

Anerkennungstheoretische Grundlagen

Anerkennung wird in mehreren gesellschaftlichen Kontexten vergeben. Die Erfahrung von Anerkennung gilt als wesentlich für die Aufrechterhaltung einer positiven Identität und Handlungsfähigkeit. Die meisten Anerkennungstheorien knüpfen an Arbeiten von Friedrich Hegel bzw. George Herbert Mead an. Bekannte zeitgenössische Theorien zu Anerkennung stammen von Axel Honneth, Nancy Fraser, Charles Taylor u.a. Sie bearbeiten differenzierte Schwerpunkte, etwa politische Ordnungen oder die Auswirkungen von Anerkennungsprozessen auf Individuen und Gruppen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth unterscheidet drei zentrale Anerkennungskategorien - Liebe, Recht und soziale Wertschätzung. Anerkennungsverletzungen können laut Honneth zum Verlust von Selbstbewusstsein und Selbstachtung führen. Unter bestimmten Bedingungen entstehen daraus soziale Kämpfe, die wiederum gesellschaftliche Entwicklung befördern. Migration spielt eine zentrale Rolle in einigen Anerkennungstheorien (siehe Stojanov, Fraser, Taylor u.a.).

Anerkennungsprobleme in der Migrationsgesellschaft

Viele in Österreich lebende Menschen mit Migrationsgeschichte sind aus rechtlichen Gründen von politischer und sozialer Partizipation teilweise oder gänzlich ausgeschlossen. Ein Wahlrecht ist an die Staatsbürgerschaft gebunden bzw. im Falle kommunaler Wahlen an die Staatszugehörigkeit zu einem EU-Mitgliedsland. Manche MigrantInnen erleben darüber hinaus, dass ihre Kompetenzen nicht wahrgenommen und wertgeschätzt werden bzw. sie durch diskriminierende Praxen Abwertung und Entpersonalisierung erfahren (Beispiel: Bewerbungsgespräche, Interaktionen am Arbeitsplatz, negativer öffentlicher Diskurs über MigrantInnen etc.).


Gerade der Arbeitsmarkt stellt einen wichtigen Anerkennungskontext dar. Studien zu Dequalifizierung weisen darauf hin, dass ein hoher Prozentsatz an eingewanderten ArbeitnehmerInnen unter ihrem jeweiligen Qualifikationsniveau beschäftigt ist. Dieser Umstand führt nicht nur zu geringen Löhnen oder zum Veralten von Kompetenzen. Er kann auch den Selbstwert und damit die Handlungsfähigkeit der Betroffenen auf Dauer schwächen. Ursachen für dequalifizierte Beschäftigung liegen zum Teil in der Anerkennungsproblematik von ausländischen Bildungsabschlüssen begründet, aber ebenso in Vorurteilen von ArbeitgeberInnen und weiteren Faktoren. Für die formale Anerkennung von Bildungsabschlüssen bestehen nach wie vor rechtliche Hürden.


Zu einer Verbesserung der Situationen sollen die 2013 in Österreich installierten fünf Anlaufstellen für Personen mit im Ausland erworbenen Qualifikationen (AST) beitragen. Weiterbildung kann Unterstützung bei der Anpassung von Qualifikationen leisten, darüber hinaus aber ebenso Anerkennungserfahrungen im weiteren Sinne ermöglichen, um die Handlungsfähigkeit der LernerInnen zu stärken (siehe Sprung 2011, Absatz zu Weiterbildung als Anerkennungshandeln).

 

Ein im pädagogischen Feld relevanter Anerkennungsaspekt betrifft Identitätsentwürfe und den Umgang mit Differenz in einer Migrationsgesellschaft. Die häufig geforderte Anerkennung von Differenz muss mit der Erkenntnis einhergehen, dass Anerkennung in diesem Zusammenhang zunächst Unterscheidungspraxen voraussetzt, die tendenziell zu dichothomisierenden Unterscheidungen zwischen einem "Wir" und den "Anderen" führen. Selbst bei kritischer Reflexion dieses Umstandes lässt sich das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Anerkennung des Anderen bei gleichzeitig damit erfolgender (Re-)Konstruktion desselben nicht auflösen. In Bezug auf Identitätsentwürfe erscheint Mecheril (2008) zufolge die Anerkennung sogenannter Mehrfachzugehörigkeiten als Normalität in globalisierten, durch Migration geprägten, modernen Gesellschaften als wesentliche Perspektive für die pädagogischer Theorie und Praxis.

 

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Weitere Informationen

Weiterführende Links

Literatur

  • Benhabib, Seyla (2008): Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Borst, Eva (2003): Anerkennung der Anderen und das Problem des Unterschieds. Perspektiven einer kritischen Theorie der Bildung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
  • Fraser, Nancy/Honneth, Axel (2005): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hg.) (2002): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.
  • Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Mecheril, Paul (2008): Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeiten. Eine Leitlinie für Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft. In: Hessische Blätter für Volksbildung, Jg. 58, Heft 1, S. 41-49.
  • Prengel, Annedore (2013): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Leverkusen: B. Budrich.
  • Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hg.) (2010): Anerkennung. Paderborn: Schöningh.
  • Sprung, Annette (2011): Zwischen Diskriminierung und Anerkennung. Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann.
  • Stojanov, Krassimir (2006): Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Taylor, Charles/Gutmann, Amy/Habermas, Jürgen (1997): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.

 

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